»Kommen Sie, wir gehen nach draußen und machen einen kleinen Spaziergang.«
Sie sprang auf. Sie war ein kleines Stück größer als er. Von den Schultern abwärts war Eberly schlank, geradezu dürr. Dünne Ärmchen, eine Hühnerbrust und sogar schon ein Bauchansatz, sagte sie sich. Er muss Sport treiben, diagnostizierte sie. Er sitzt zu lange im Büro. Ich muss ihn dazu motivieren, an die frische Luft oder ins Fitness-Center zu gehen und etwas für sich zu tun.
Aber sie folgte ihm schweigend durch den Korridor, der an den anderen Verwaltungsbüros des Habitats vorbeiführte und durch die Tür am Ende des Gangs.
Heller Sonnenschein fiel durch die langen Fenster. Bunte Schmetterlinge flatterten zwischen den Hyazinthen, vielfarbigen Tulpen und blutroten Mohnblumen, die den Pfad säumten. Sie gingen schweigend den Pfad entlang, der neben der Ansammlung niedriger weißer Gebäude verlief und sich den Hügel hinunterzog, auf dem das Dorf errichtet worden war. Der gepflasterte Pfad zog sich um den See am Fuß des Hügels herum und führte auf eine grüne Wiese. Ein Radfahrer überholte sie, der im Freilauf das sanfte Gefälle hinunterrollte. Junge Laubbäume tauchten den Pfad in gesprenkelten Schatten. Susan hörte in den Büschen Insekten summen und Vögel zwitschern. Eine komplette Ökologie, die sorgfältig eingerichtet und gewartet wurde. Beim Anblick der Wiese und der Gruppen größerer Bäume, die weiter entfernt den sanft geschwungenen Pfad säumten, vermochte sie kaum zu glauben, dass sie sich im Innern eines riesigen, von Menschenhand geschaffenen Zylinders befanden, der ein paar Hundert Kilometer über der Mondoberfläche im Weltraum hing. Bis sie nach oben schaute und sah, dass das Land über ihr wie eine geschlossene Kuppel sich wölbte.
»Holly?«
Ihre Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf Eberly. »Ich… es tut mir Leid«, stammelte sie verlegen. »Ich war wohl in Gedanken.«
Er nickte, als ob er ihre Entschuldigung annähme. »Ja, ich habe schon ganz vergessen, wie schön es hier ist. Sie haben völlig Recht; niemand von uns sollte das als selbstverständlich betrachten.«
»Was hatten Sie noch gesagt?«, fragte sie.
»Es war nicht so wichtig.« Er hob den Arm und machte eine dramatisch ausladende Geste. »Das hier ist wichtig, Holly. Diese Welt, die ihr für euch erschaffen werdet.«
Mein Name ist nun Holly, erinnerte sie sich. Wenn du dich an alles andere erinnerst, was du erlebst, kannst du dich auch an einen neuen Namen erinnern, verdammt.
Dennoch fragte sie: »Wieso wollten Sie, dass ich meinen Namen ändere?«
Eberly neigte nachdenklich den Kopf. »Ich habe jedem neuen Rekruten vorschlagen, seinen Namen zu ändern. Sie betreten eine neue Welt und beginnen ein neues Leben. Da ist ein neuer Name doch nur folgerichtig, meinen Sie nicht auch?«
»Na klar! Sicher.«
»Trotzdem«, seufzte er, »befolgen nur sehr wenige meinen Vorschlag. Sie klammern sich an die Vergangenheit.«
»Es ist wie eine Taufe, nicht wahr?«, sagte Holly.
Er schaute sie an, und sie sah etwas wie Respekt in seinen stechenden blauen Augen. »Ja, wie eine Taufe. Wie eine Wiedergeburt. Der Beginn eines neuen Lebens.«
»Das wird dann schon mein drittes Leben sein«, sagte sie zu ihm.
Eberly nickte.
»An mein erstes Leben erinnere ich mich gar nicht«, sagte Holly. »In der Erinnerung fängt mein Leben erst vor sieben Jahren an.«
»Nein«, sagte Eberly bestimmt. »Ihr Leben begann vor zwei Wochen, als Sie hier ankamen.«
»Ja sicher, richtig.«
»Und deshalb haben Sie auch ihren Namen geändert, nicht wahr?«
»Richtig«, wiederholte sie. Er nimmt alles so verdammt ernst, sagte sie sich. Ich wünschte, ich könnte ihm einmal ein Lächeln entlocken.
Eberly blieb stehen und drehte sich langsam im Kreis. Dabei nahm er die Welt in sich auf, die sich um sie herum erstreckte und über ihren Köpfen zu einer Kuppel wölbte.
»Ich wurde in ärmlichsten Verhältnissen geboren«, sagte er mit leiser Stimme, die beinahe ein Flüstern war. »Ich war eine Frühgeburt, und die Ärzte räumten mir kaum eine Überlebenschance ein. Mein Vater verließ uns, als ich noch ein Baby war, und meine Mutter ließ sich dann mit einem mexikanischen Wanderarbeiter ein. Er wünschte mir den Tod. Ohne die Neue Moralität wäre ich kein halbes Jahr alt geworden. Sie brachten mich in ihr Krankenhaus und ermöglichten mir eine Schulbildung. Sie haben meinen Körper und meine Seele gerettet.«
»Das freut mich für Sie«, sagte Holly.
»Die Neue Moralität hat Amerika gerettet«, legte Eberly dar. »Als durch den Treibhaus-Effekt die Küstengebiete überflutet wurden und die Hungeraufstände ausbrachen, war es die Neue Moralität, die Ordnung und Sitte in unser Leben zurückgebracht hat.«
»Ich erinnere mich nicht an die Staaten«, sagte sie. »Nur an Selene. An sonst nichts.«
»Sie scheinen allerdings keine Schwierigkeiten zu haben, sich an alles zu erinnern, was seitdem geschehen ist. Ich habe noch niemanden mit einem so präzisen Gedächtnis gesehen.«
»Das liegt nur an den RNA-Behandlungen, denen ich unterzogen wurde«, erwiderte Holly mit einem beiläufigen Achselzucken.
»Ach ja, natürlich.« Er ging langsam weiter. »Also, Holly, da wären wir nun. Wir beide. Und noch zehntausend andere.«
»Neuntausendneunhundertachtundneunzig«, korrigierte sie ihn mit einem verschmitzten Lächeln.
Er neigte in Anerkennung ihrer Rechenkünste leicht den Kopf. Er wirkte völlig ernst und hatte ihren Humor überhaupt nicht erkannt.
»Sie haben die einmalige Gelegenheit, hier eine neue Welt zu erschaffen«, sagte Eberly. »Eine vollständig neue, reine Welt. Sie sind die glücklichsten Menschen aller Zeiten.«
»Sie aber auch«, sagte sie.
Er machte eine abwehrende Handbewegung. »Ich bin nur ein Mann. Ihr seid zehntausend — minus eins, natürlich. Ihr seid diejenigen, die diese neue Welt erschaffen werden. Es liegt an euch, sie nach euren Vorstellungen zu formen. Ich bin schon völlig zufrieden damit, hier unter euch zu sein und euch mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln zu helfen.«
Holly schaute ihn mit einem Gefühl großer Bewunderung an. »Aber Malcolm, Sie müssen uns dabei helfen, diese neue Welt aufzubauen. Wir werden Ihre Visionen brauchen, Ihre…« — sie suchte nach einem passenden Wort… »Ihre Hingabe.«
»Ich werde natürlich alles tun, was ich vermag«, sagte er. Und zum ersten Mal lächelte er.
Holly verspürte Erregung.
»Aber Sie müssen auch Ihr Bestes geben«, fügte er hinzu. »Ich erwarte von Ihnen die gleiche Hingabe und den Einsatz, den ich selbst bringe. Nichts weniger, Holly.«
Sie nickte stumm.
»Sie müssen sich der Arbeit, die wir verrichten, mit größter Hingabe widmen«, sagte Eberly. »Und ohne Kompromisse.«
»Das will ich tun«, versicherte Holly. »Eigentlich tue ich es sogar jetzt schon.«
»Alle Bereiche Ihres Lebens müssen unserer Arbeit untergeordnet werden«, insistierte er. »Sie werden keine Zeit für Lustbarkeiten haben. Auch nicht für romantische Verstrickungen.«
»Ich habe keine romantischen Verstrickungen, Malcolm«, sagte sie kleinlaut. Ich wünschte aber, ich hätte welche, sagte sie sich. Mit dir.
»Ich auch nicht«, sagte er. »Die vor uns liegende Aufgabe ist zu wichtig, als dass sie durch persönliche Belange beeinträchtigt werden dürfte.«
»Ich verstehe, Malcolm«, sagte Holly. »Voll und ganz.«
»Gut. Das freut mich.«
Zuckerbrot und Peitsche — so halte ich sie unter Kontrolle, sagte Eberly sich. Zuckerbrot und Peitsche.
Zwei Stunden vor dem Start
Eberly stellte sich mit dem Rücken zum gewölbten Fenster der Beobachtungskuppel. Hinter den dicken Quarzscheiben führten die Sterne einen langsamen Tanz auf, während das riesige Habitat sich träge um die eigene Achse drehte. Dann schob der Mond sich ins Blickfeld — so nah, dass man die glasierten Startrampen des Raumhafens Armstrong sah, die von jahrzehntelangem Raketenfeuer geschwärzt waren, die Zwillingskuppeln von Selenes zwei unterirdischen öffentlichen Plätzen und die riesige Baugrube, wo Arbeiter eine dritte Plaza errichteten. Ein paar Leute behaupteten sogar, einzelne Zugmaschinen zu sehen und die Seilbahn, die zu vorgeschobenen Siedlungen wie Hell Crater und dem Observatorium auf der Rückseite des Monds führten.