Urbain schaute auf Wunderly und zuckte unschlüssig die Achseln. »Das weiß niemand.«
»Ich könnte es ausrechnen«, sagte Wunderly.
»Wie viele Tonnen Eis enthalten die Ringe überhaupt?«, fragte Eberly.
»Etwas mehr als fünfmal-zehn-hoch-siebzehn-Tonnen«, sagte Wunderly, bevor Urbain zu antworten vermochte.
»Fünfmal…« Eberly setzte ein verwirrtes Gesicht auf. »Für mich hört sich das nach ziemlich viel an.«
»Das ist eine Fünf mit siebzehn Nullen«, sagte Urbain.
»Fünfhundert Billiarden Tonnen«, sagte Wunderly.
Eberly gab sich erstaunt. »Und da machen Sie sich Sorgen, wenn wir jährlich ein paar hundert Tonnen davon abzweigen?«
Spöttisches Gelächter wurde in der Menge laut.
»Aber wir wissen nicht, welche Auswirkungen das auf die Ringdynamik hätte«, sagte Wunderly fast flehentlich.
»Sie sprechen von ein paar hundert Tonnen pro Jahr, aber dabei wird es nicht bleiben«, fügte Urbain dezidiert hinzu.
»Ja, aber es sind doch fünfhundert Billiarden Tonnen vorhanden«, sagte Eberly.
»Und früher war ganz Kanada einmal mit Wald bedeckt«, sagte Urbain mit bebenden Nasenflügeln. »Wo sind die Bäume nun? Einst wimmelte es in den Weltmeeren von Fischen. Und nun stirbt selbst das Plankton aus. Einst waren die Dschungel Afrikas die Heimat der großen Menschenaffen. Und heute leben die einzigen noch existierenden Schimpansen und Gorillas in Zoos.«
Eberly wandte sich ans Publikum und sagte mit sonorer und autoritärer Stimme: »Nun seht ihr, weshalb es den Wissenschaftlern nicht erlaubt sein darf, dieses Habitat zu leiten. Ihnen liegen Menschenaffen mehr am Herzen als die Menschen selbst. Sie wollen uns fünfhundert Billiarden Tonnen Wassereis vorenthalten, wo schon ein winziger Bruchteil dieses Wassers uns alle reich machen würde.«
»Aber wir wissen noch nicht genug über die Ringe«, platzte Wunderly heraus. »Ab einem gewissen Punkt würde die Dynamik der Ringe vielleicht so beeinträchtigt, dass sie auf den Planeten stürzen!«
»Und was würde dann mit den lebendigen Organismen unter den Wolken geschehen?«, fügte Urbain hinzu. »Das wäre eine unvorstellbare Umweltkatastrophe. Ein Planeten- Genozid!«
Eberly schüttelte den Kopf. »Indem man vielleicht hundert Tonnen von fünfhundert Billiarden wegnimmt.«
»Ja«, sagte Urbain schroff. »Ich werde das nicht erlauben. Zumal die internationale Astronauten-Behörde das gar nicht zulassen würde.«
»Und wer will uns daran hindern?«, erwiderte Eberly genauso schroff. »Wir sind eine unabhängige Körperschaff. Wir müssen uns weder dem Diktat der IAA noch einer anderen irdischen Autorität beugen.
Ich werde eine Regierung bilden, die von allen irdischen Zwängen unabhängig ist«, sagte er ans Publikum gewandt. »Wie Selene. Wie die Bergbau-Siedlungen im Asteroiden- Gürtel. Wir werden unsere eigenen Herren sein! Das verspreche ich euch!«
Das Publikum brüllte seine Zustimmung heraus. Urbain schüttelte konsterniert den Kopf. Und Wunderly brach in Tränen aus.
Professor Willmots Unterkunft
Anstatt seiner üblichen Abendunterhaltung verfolgte Wilmot diesmal die Abschlusskundgebung. Eberly ist ein Schwadroneur, nichts anderes, sagte er sich. Die Ringe ausbeuten und alle reich machen. Eine großartige Idee. In ökologischer Hinsicht wäre das wohl unklug, aber die kurzfristigen Profite werden die Angst vor langfristigen Problemen in den Hintergrund schieben.
Die Wissenschaftler sind damit natürlich nicht einverstanden. Aber was können sie schon tun? Eberly hat die Wahl im Sack. Timoschenkos Leute werden mit der Brieftasche abstimmen und Eberly wählen. Und ich wette, auch ein großer Teil der Wissenschaftler.
Er lehnte sich in seinem komfortablen Polstersessel zurück und sah, wie die Leute die Plattform stürmten und Eberly auf ihren Schultern davontrugen. Urbain, Timoschenko und diese bedauernswerte kleine, rothaarige Frau blieben wie verlassene Kinder zurück.
Holly wusste, dass der Versorgungstunnel, der direkt ins Apartmentgebäude führte, in dem Professor Wilmot lebte, keinen anderen Ausgang hatte. Seit sie untergetaucht war, hatte sie sich im Schutz der Nacht in Bürogebäude geschlichen und die sanitären Einrichtungen benutzt. Sie hatte sich sogar im Haupt-Lagerhaus neue Kleidung beschafft, ohne entdeckt zu werden. Nun würde sie jedoch das Risiko eingehen müssen, das Dorf zu betreten und im Blickfeld der Überwachungskameras an den Laternenpfählen durch die Straßen von Athen zu laufen.
Wie soll ich das schaffen, ohne gesehen zu werden, fragte sie sich, während sie durch den Tunnel ging. Ich brauche eine Tarnung.
Oder ich muss ein Ablehnungsmanöver inszenieren, sagte sie sich. Sie blieb stehen, setzte sich auf den Boden und dachte angestrengt nach.
Tavalera ging kilometerweit durch den Haupt- Versorgungstunnel, der von Athen ausgehend unter den Gärten und Farmen bis zum Ende des Habitats führte. Keine Spur von Holly.
Er kam an einem kompakten, kleinen Wartungsroboter vorbei, der mit einem zornig summenden Staubsauger einen kleinen Bereich des Metallbodens bearbeitete.
Tavalera blieb stehen und betrachtete den kompakten, kastenförmigen Roboter. Aus seiner Zeit in der INST wusste er, dass die Roboter durch diese Tunnels patrouillierten — sie waren darauf programmiert, eventuelle Freisetzungen zu beseitigen und Menschen um Hilfe zu rufen, falls sie auf irgend etwas stießen, das ihre begrenzten Möglichkeiten überstieg. Tavalera erkannte, dass es mit dieser Stelle eine gewisse Bewandtnis hatte, obwohl er weder Schmutz noch Olschmiere sah. Waren es vielleicht Krümel gewesen? War es möglich, dass Holly hier Rast gemacht und etwas gegessen hatte?
Er ließ in beiden Richtungen den Blick durch den Tunnel schweifen. Nachdem der Roboter sich vergewissert hatte, dass der Abschnitt wieder sauber war, rollte er in Richtung des Habitat-Endes davon. Er wich Tavalera geschickt aus und ließ die Sensoren spielen, um sich davon zu überzeugen, dass ihm wirklich nichts entgangen war.
»Holly!« rief Tavalera in der Hoffnung, dass sie nah genug war, um ihn zu hören.
Die unter Hausarrest stehenden Cardenas und Gaeta saßen nebeneinander auf dem Sofa und verfolgten in der Enge ihres Apartments die Veranstaltung.
»Die Ringe ausbeuten?«, fragte Cardenas atemlos. »Nadia wird bei diesem Ansinnen einen Anfall bekommen.«
Gaeta stieß ein Grunzen aus. »Ich nicht. Vielleicht hat er gar nicht mal so Unrecht. Zehn hoch siebzehn ist schließlich eine sehr große Zahl.«
»Trotzdem…«, murmelte Cardenas.
»Du kennst den Preis für eine Tonne Wasser?«
»Ich weiß, dass es wertvoller ist als Gold«, sagte Cardenas, »aber das liegt nur daran, dass der Goldpreis total verfallen ist, seit die Felsenratten die Asteroiden ausbeuten.«
»Die Ringe abbauen.« Gaeta kratzte sich am Kinn. »Könnte funktionieren.«
»Und was werden wir wegen Holly unternehmen«, fragte Cardenas mit einer plötzlichen Schärfe in der Stimme.
»Wir können nicht viel tun, nicht wahr?«, sagte Gaeta. »Wir sitzen hier fest.«
»Jedenfalls im Moment.«
»So?«
»Wir haben immer noch das Telefon«, sagte Cardenas.
»Und wen willst du anrufen?«
»Wer könnte uns helfen? Und Holly?«
»Quien sabe?«
»Was ist denn mit Professor Wilmot?«
»Er war nicht auf der Veranstaltung«, sagte Gaeta.
»Dann ist er wahrscheinlich zu Hause.«
Cardenas befahl dem Telefon, den Professor anzurufen. Es kam zwar kein Bild, doch Wilmots kultivierte Stimme sagte: »Ich kann im Moment leider nicht mit Ihnen sprechen. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht.«
Bevor Gaeta sich zu äußern vermochte, sagte Cardenas: »Professor, hier spricht Kris Cardenas. Ich mache mir Sorgen wegen Holly Lane. Ich war so frei, mir ihr Dossier von der Erde kommen zu lassen, und es entspricht nicht dem Dossier, von dem Eberly behauptet, dass es ihres sei. Es gibt keinerlei Hinweise auf eine mentale Störung oder emotionale Instabilität. Hier stimmt ganz offensichtlich etwas nicht, und ich würde das gern so bald wie möglich mit Ihnen besprechen.«