Eberly vermied es, nach draußen zu schauen. Beim Anblick des in ständiger Bewegung befindlichen Mondes, der Sterne und des Universums überkam ihn Übelkeit. Deshalb drehte er der Szenerie den Rücken zu. Zumal seine Arbeit, seine Zukunft und sein Schicksal im Innern des Habitats lagen und nicht dort draußen.
Vor ihm stand eine kleine, korpulente Frau, mit einem farbenfrohen Gewand in allen Nuancen des Rot- und Orange-Spektrums über einer weiten beigefarbenen Hose bekleidet. Ihr schien der Blick durchs Fenster nichts auszumachen. Funkelnde Ringe zierten fast alle ihre Finger, und noch mehr Schmuck zierte Handgelenke, Ohrläppchen und das Doppelkinn. Ruth Morgenthau gehörte zum kleinen Kader, den die Heiligen Jünger ins Habitat eingeschleust hatten. Sie war nicht etwa zu dieser Reise ohne Wiederkehr zum Saturn gezwungen worden, wie Eberly wusste; vielmehr hatte sie sich freiwillig gemeldet.
Neben ihr stand ein dünner, kleiner und griesgrämiger Mann, der eine schäbige schwarze Kunstlederjacke trug.
»Malcolm«, sagte Morgenthau und machte eine Geste mit plumper Hand, »darf ich Ihnen Dr. Sammi Vyborg vorstellen.« Sie wandte sich halb um. »Dr. Vyborg, Malcolm Eberly.«
»Ich bin sehr erfreut, Sie kennen zu lernen, Sir«, sagte Vyborg mit schnarrender, nasaler Stimme. Sein Gesicht war kaum mehr als ein Totenkopf mit einer Hautbespannung. Hasenzähne. Schmale Augenschlitze.
Eberly ergriff kurz die ausgestreckte Hand. »Doktor in welchem Fachgebiet?«, fragte er.
»Pädagogik. An der Universität Wittenberg.«
Die Andeutung eines Lächelns erschien in Eberlys Gesicht. »Hamlets Universität.«
Vyborg grinste und zeigte dabei die Zähne. »Ja, wenn man Shakespeare glauben will. Allerdings wird der Däne nicht im Archiv der Universität aufgeführt. Ich habe selbst nachgeschaut.«
»Die Aufzeichnungen datieren so weit zurück?«, fragte Morgenthau.
»Sie sind natürlich sehr lückenhaft.«
»Ich bin nicht an der Vergangenheit interessiert«, sagte Eberly. »Ich arbeite an der Zukunft.«
Vyborg nickte. »Das ist mir schon klar.«
Eberly schaute Morgenthau missbilligend an. »Ich habe Dr. Vyborg erklärt«, beeilte sie sich zu sagen, »dass unsere Aufgabe in der Übernahme der Verwaltung des Habitats besteht, nachdem wir gestartet sind.«
»Was in zwei Stunden der Fall sein wird«, merkte Vyborg an.
Eberly richtete den Blick auf den kleinen Mann und sagte: »Ich habe es arrangiert, dass Sie einen hohen Posten in der Kommunikations-Abteilung bekommen. Wären Sie auch in der Lage, die ganze Abteilung zu leiten, falls und wenn ich sie damit beauftragte?«
»In der Abteilung gibt es noch zwei prominente Personen über mir«, erwiderte Vyborg. »Sie sind aber beide keine Gläubigen.«
»Ich kenne das Organigramm!«, sagte Eberly schroff. »Ich habe es selbst erstellt. Mir blieb nichts anders übrig, als diese beiden Säkularisten über Ihnen zu akzeptieren, aber Sie sind derjenige, den ich für die Leitung der Abteilung vorgesehen habe. Wären Sie dieser Aufgabe gewachsen?«
»Natürlich«, antwortete Vyborg, ohne zu zögern. »Was wird aber aus meinen Vorgesetzten?«
»Ihr könnt sie nicht wieder nach Hause schicken, wenn wir einmal gestartet sind«, merkte Morgenthau an. Ein Lächeln zauberte Grübchen in ihre Wangen.
»Ich werde mich schon um sie kümmern«, versicherte Eberly nachdrücklich, »wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Fürs Erste will ich nur wissen, ob ich mich auf Sie verlassen kann.«
»Das können Sie«, sagte Vyborg.
»Auf Sie muss uneingeschränkt Verlass sein. Ich will unbedingte Loyalität.«
»Die werden Sie auch bekommen«, sagte Vyborg dezidiert. »Aber nur, falls es Ihnen gelingt, mich zum Leiter der Kommunikationsabteilung zu machen«, fügte er lächelnd hinzu.
»Auf jeden Fall.«
Morgenthau lächelte; sie war froh, dass diese beiden Männer in der Lage waren, zusammenzuarbeiten und der Sache zu dienen, der sie ihr Leben gewidmet hatte.
Holly wurde nervös. Sie hatte überall nach Malcolm gesucht, von seinem spartanischen kleinen Büro bis zu den anderen Hasenkästen in der Human-Resources-Abteilung, dann den Gang entlang in den anderen Abteilungen des Verwaltungsgebäudes. Aber nirgends eine Spur von ihm.
Er wird noch den Start verpassen!, sagte sie sich immer wieder. Sie hatte nämlich alles ganz genau geplant. Sie wollte mit Malcolm zum Seeufer am Rand des Dorfes gehen. Professor Wilmot und seine Assistenten hatten mehr als ein Dutzend Stellen im Habitat eingerichtet, wo die Leute sich versammeln und die Start-Feierlichkeiten auf großen, im Freien aufgestellten Bildschirmen verfolgen konnten. Das Seeufer war die beste Stelle, sagte Holly sich — landschaftlich am schönsten und den Büros am nächsten gelegen.
Doch Malcolm war nirgends zu finden. Wo mochte er wohl stecken? Was machte er nur? Er wird noch alles versäumen! Die Leute strömten auf den Pfaden zu den Treffpunkten, wo die großen Bildschirme aufgestellt waren: Paare und größere Gruppen, die angeregt plauderten und ihr grüßend zunickten. Holly ignorierte sie allesamt und suchte weiter nach Eberly.
Und dann sah sie ihn auf dem Pfad, der aus dem Wald herausführte — in Begleitung dieser übergewichtigen Morgenthau. Holly runzelte die Stirn. Er verbringt ziemlich viel Zeit mit ihr, sagte sie sich. Als sie jedoch näher kamen, erschien ein Lächeln in Hollys Gesicht: Morgenthau schnaufte wie eine Lokomotive, während sie mit dem zügig ausschreitenden Malcolm Schritt zu halten versuchte. Geschieht ihr Recht, sagte Holly sich, als sie den Pfad entlangging, um sie abzufangen und mit Malcolm zum Seeufer zu gehen. Sie wollte ihn an ihrer Seite haben, wenn das Habitat zum langen Flug zum Saturn aufbrach. Keinen anderen, sagte sie sich. Er soll bei mir sein.
Pancho Lane setzte sich im Bett auf und schaute betrübt auf die holografische Darstellung des im Weltraum hängenden Habitats Goddard. Es schien, als ob eine Hälfte ihres Schlafzimmers verschwunden und der Dunkelheit des Weltraums gewichen sei, wobei ein kleines, langsam sich drehendes Habitat in der Mitte der Szene schwebte. Der pockennarbige, leuchtende Mond wanderte ins Blickfeld. Pancho erkannte die Laser-Boje, die den Gipfel von Mt. Yeager markierte — direkt oberhalb von Selene, nicht allzu weit von ihrem Schlafzimmer entfernt.
Sie tut es wirklich, sagte Pancho sich verdrießlich. Sie macht sich wirklich in diesem zusammengedengelten Blecheimer vom Acker, nur um sich so weit wie möglich von mir zu entfernen. Ich habe ihr das Leben gerettet, habe mir den Arsch aufgerissen, um ihre Arztrechnungen zu bezahlen, die Kryonik und den ganzen Kram. Ich habe sie wie ein Baby gefüttert, ihr die einfachsten Verrichtungen wieder beigebracht und ihr den verschissenen Hintern abgewischt. Und nun macht sie sich auf ins schwarze Unbekannte. Das nenne ich Dankbarkeit. Das ist wahre Schwesternliebe.
Dennoch verspürte sie keinen echten Zorn. Sie wusste, dass Susie sich von ihr lösen und ein eigenes Leben beginnen musste. Sie muss unabhängig werden. Jedes Kind muss früher oder später auf eigenen Füßen stehen. Teufel, ich habe doch genauso gehandelt, als Susie noch ein Kind war.
Nein — sie war keine Susie mehr, erinnerte sie sich. Sie nennt sich nun Holly. Daran muss ich denken, wenn ich sie anrufe. Holly.
Falls sie in Schwierigkeiten gerät, werde ich ein Rettungsschiff aussenden, um sie nach Hause zu holen. Sie muss nur einen Ton sagen. Ich werde selbst zu ihr fliegen, wenn es sein muss.