»Mach's doch selber«, brüllte ein aggressiver Mann mit hochrotem Kopf. »Wir haben doch nicht den ganzen Flug zum Saturn gemacht, um Ihnen bei der Errichtung einer Diktatur zu helfen.«
»Aber…«
Sie wandten sich von Eberly ab und gingen grummelnd und murmelnd an Holly vorbei durch die Tür.
»Wartet doch«, rief Eberly vergeblich.
Kaum jemand hielt auch nur inne. Sie hatten es plötzlich alle eilig, den Konferenzraum zu verlassen, wobei die meisten es vermieden, Holly in die Augen zu schauen.
Eberly stand am Kopfende des Tisches und beobachtete den Auszug. Morgenthau hat alle Büros verwanzen lassen, wurde er sich bewusst. Kananga wird Bescheid wissen, bevor der Letzte den Raum verlassen hat.
Einschwenken in den Saturn-Orbit
Ohne um Politik sich zu scheren, ohne um menschliches Trachten und Streben sich zu kümmern, ohne von den Ängsten und Hoffnungen der zehntausend Leute an Bord des Habitats zu wissen, fiel Goddard im Griff von Saturns starker Gravitationsquelle dem Ringplaneten entgegen und glitt in den vorgesehenen Orbit direkt außerhalb des Ringsystems.
Eine halbe Million Kilometer entfernt ging ein zerklüfteter, eisbedeckter Gesteinsbrocken von der halben Größe des Habitats ebenfalls in einen Orbit, der ihn auf einen Kollisionskurs mit Saturns hellstem und größtem Ring führte.
In der winzigen Kommandozentrale, die dennoch mit allem Notwendigen bestückt war, schaute Timoschenko finster auf die Daten, die der Computerbildschirm ihm präsentierte.
»Die Staubdichte ist höher als prognostiziert«, sagte er.
Captain Nicholson nickte; sie hatte den Blick auf ihre Bildschirme gerichtet. »Aber es besteht kein Grund zur Sorge.«
»Der Staub verursacht einen Abrieb der Hülle.«
»Noch innerhalb der zulässigen Grenzwerte. Wenn wir erst einmal in der Umlaufbahn sind, werden wir mit dem Staub fliegen, und der Abrieb wird sich verringern.«
Timoschenko sah, dass der Navigator und der Erste Offizier trotz der Versicherungen des Captain mehr als nur ein wenig besorgt wirkten.
»Wenn der Abrieb einen Bruch in einem der supraleitenden Drähte verursacht«, sagte der Erste Offizier, »dann könnte das zum Zusammenbruch des Strahlenschutzschirms führen.«
Der Captain schwenkte auf dem Stuhl zu ihm herum. Sie war eine zierliche Frau, aber wenn sie das kantige Kinn so wie jetzt vorgeschoben hatte, dann war nicht mit ihr zu spaßen.
»Und was soll ich Ihrer Ansicht nach dagegen tun, Mr. Perkins? Wir befinden uns im freien Fall. Erwarten Sie vielleicht von mir, den Rückwärtsgang einzulegen und die Gravitationsquelle des Saturns zu verlassen?«
»Äh… nein, Ma'am. Ich wollte nur…«
»Sie tun einfach nur Ihre Pflicht und hören auf zu jammern wie ein altes Weib. Wir haben die Abriebrate schon vor dem Ausscheren aus dem Mondorbit berechnet, nicht wahr? Der Schirm wird nicht beschädigt werden.«
Der Erste Offizier senkte den Kopf und starrte auf den Computermonitor, als ob sein Leben davon abhinge.
»Und Sie«, wandte sie sich an den Navigator, »behalten diese anfliegende Eiskugel im Auge. Falls uns überhaupt Gefahr droht, dann von ihr.«
»Sie folgt der prognostizierten Flugbahn mit einer minimalen Abweichung«, sagte der Navigator.
»Sie beobachten sie trotzdem«, sagte Captain Nichol-son schroff. »Und wenn die Astronomen noch so viele Prognosen erstellen — wenn dieses Ding uns erwischt, sind wir erledigt.«
Timoschenko grinste säuerlich. Sie ist ein beinhartes altes Weib. Trotzdem werde ich sie vermissen, wenn sie uns verlässt.
Wenn sie und die beiden anderen uns verlassen, werde ich das dienstälteste Besatzungsmitglied sein, wurde er sich dann bewusst. Das dienstälteste und das einzige.
»Er hat uns gelinkt«, zischte Vyborg. »Der Hund hat uns gelinkt.«
Kananga, der die Echtzeit-Übertragung von Eberlys gescheiterter Versammlung für sein improvisiertes Aufgebot verfolgte, lachte laut. »Nein«, sagte der Ruander. »Er hat versucht, uns zu linken. Aber es hat nicht geklappt.«
Sie befanden sich in Morgenthaus Büro. Sie saß am Schreibtisch und schaltete die Übertragung der Spionage- Kamera ab. Dann beugte sie sich auf dem knarrenden Stuhl vor. »Wie verfahren wir nun mit ihm?«, fragte sie.
»Er ist ein Verräter«, insistierte Vyborg. »Ein opportunistischer Wendehals, der seine eigene Mutter für ein paar Silberlinge verkaufen würde.«
»Der Ansicht bin ich auch«, sagte Morgenthau mit einem grimmigen Gesichtsausdruck. »Aber was sollen wir nun mit ihm tun?«
»Dafür haben wir doch die Luftschleusen«, sagte Kananga lächelnd. »Für ihn und das Mädchen.«
»Und Cardenas?«, fragte Morgenthau. »Und der Stuntman? Und Wilmot und alle anderen, die gegen uns sind?«
Kananga wollte schon zustimmend nicken, bis er sich ihrer Worte bewusst wurde. Er rieb sich nachdenklich das Kinn.
»Wir können nicht jeden exekutieren, der nicht auf unserer Linie liegt«, sagte Vyborg. »Leider.«
»Ja«, sagte Kananga. »Selbst meine besten Leute werden irgendwo eine Grenze ziehen.«
»Dann müssen wir sie eben kontrollieren, anstatt sie zu exekutieren«, sagte Morgenthau.
»Aber wie sollen wir Eberly jetzt noch kontrollieren? In ein paar Stunden wird er als Leiter dieser Gemeinschaft eingesetzt werden.«
»Das hat gar nichts zu sagen«, versicherte Morgenthau. »Sie haben doch gesehen, wie diese Leute auf sein Hilfeersuchen reagiert haben. Die Querulanten und Freidenker an Bord des Habitats werden keinen Finger rühren, um ihm gegen uns zu helfen.«
»Sie haben ihn aber gewählt.«
»Ja, und nun erwarten sie von ihm, dass er den Laden schmeißt, ohne sie zu belästigen. Sie wollen nicht mit den Pflichten eines Staatsbürgers behelligt werden.«
»Aha«, sagte Kananga. »Ich verstehe.«
»Solange wir die Leute in Ruhe lassen, werden sie uns bei unseren Plänen auch freie Hand lassen.«
»Dann hat Eberly also den Titel, aber wir sorgen dafür, dass er keine Macht hat.«
»Exakt. Er wird nach unserer Pfeife tanzen müssen. Er hat gar nichts zu melden.«
»Und Wilmot?«
»Den haben wir schon abserviert.«
»Cardenas? Und der Stuntman?«, fragte Vyborg.
»Der Stuntman wird uns nach seiner Show verlassen. Er wird mit dem Schiff zurückfliegen, das die Wissenschaftler von der Erde herbringt.«
»Cardenas«, wiederholte Vyborg. »Ich will sie nicht hier haben. Sie und ihre Nano-Maschinen.«
»Und diese Lane«, sagte Kananga und fasste sich an die Backe, wo ihn ihr Tritt getroffen hatte. »Sie muss aus dem Weg geräumt werden. Und zwar für immer.«
»Man könnte sie wegen Romeros Ermordung exekutieren«, sagte Morgenthau.
»Es wäre aber besser, wenn sie bei einem Fluchtversuch umkommt«, sagte Kananga.
»Ja, das stimmt wohl.«
»Und was ist mit Cardenas?«, insistierte Vyborg.
Morgenthau sog die Luft ein. »Ich mag sie auch nicht. Sie könnte uns noch Scherereien machen.«
Dann hellte ihr Gesicht sich plötzlich auf. »Nanotechnik! Angenommen, wir finden heraus, dass Dr. Cardenas im Labor gefährliche Nanobots zusammenbraut?«
»Das tut sie aber nicht.«
»Aber die Leute werden es glauben. Vor allem dann, wenn wir ihnen erzählen, dass Romero durch Nanomaschinen den Tod fand.«
Trotz ihrer Kenntnisse der Himmelsmechanik und trotz der Versicherungen, die sie Timoschenko und den anderen beiden Männern ihrer kleinen Besatzung geben hatte, wurde Captain Nicholson immer nervöser, je mehr der Countdown sich dem Ende näherte.
Die Bildschirme zeigten alle das gewohnt langweilige Bild. Sie schienen auf dem richtigen Kurs zu sein. Der Abrieb durch den Staub war zwar ein Ärgernis, lag aber nur knapp oberhalb der prognostizierten Höchstwerte. Die anfliegende Eiskugel folgte auch ihrer vorhergesagten Bahn — im sicheren Abstand von zweihunderttausend Kilometern vom Habitat.