Langsam erhob Tavalera sich vom Stuhl, auf dem er fast den ganzen Tag gesessen hatte. Holly ist in Gefahr, und sie braucht Hilfe, ob sie das nun einsieht oder nicht. Meine Hilfe. Ich muss sie finden, ihr helfen und ihr beweisen, dass sie in dieser Lage nicht allein ist.
Zum ersten Mal in seinem Leben fasste Raoul Tavalera den Entschluss, dass er handeln musste — ungeachtet aller Konsequenzen. Es wird Zeit, dass ich jemand werde, sagte er sich. Ich muss Holly finden, bevor Kanangas Paviane es tun.
Konzentrier dich, sagte Gaeta sich. Vergiss alles außer dem Auftrag, den du durchführen musst. Vergiss Kris, vergiss überhaupt alles andere — außer dass du diesen Stunt durchführen musst.
Er stand an der inneren Luke der Luftschleuse, umgeben von Fritz, Berkowitz und Timoschenko, der das Raumboot zu den Ringen fliegen würde. Die anderen Techniker waren hinter ihm und prüften den Anzug ein letztes Mal aus.
Berkowitz hatte Microcams an den Wänden um die Luftschleuse installiert, in der Luftschleusenkammer und sogar am Stirnband, das sein modisch gelocktes und braun getöntes Haar bändigte.
»Was ist das denn für ein Gefühl, wenn man als erster Mensch einen Durchgang durch die Sarurnringe wagt?«, fragte Berkowitz, dem es vor Aufregung fast die Sprache verschlug.
»Nicht jetzt, Zeke«, sagte Gaeta. »Muss mich auf die Arbeit konzentrieren.«
Fritz trat mit einem strengen Ausdruck zwischen sie. »Er kann jetzt keine Interviews geben.«
»Schon gut«, sagte Berkowitz verständnisvoll, obwohl die Enttäuschung ihm ins Gesicht geschrieben stand. »Wir werden nur die Vorbereitungen dokumentarisch aufzeichnen und die Interviews später darüber legen.«
Gaeta wandte sich an Timoschenko: »Dort draußen gibt es nur dich und mich.«
»Keine Sorge«, sagte Timoschenko ernst. »Ich bringe dich zum B-Ring, fliege dann durch die Cassini-Teilung und hole dich auf der anderen Seite der Ringebene wieder ab.«
Gaeta nickte. »Richtig.«
»Der Anzug ist durchgecheckt und einsatzbereit«, sagte einer der Techniker.
»Irgendwelche Probleme?«, fragte Gaeta.
»Die Zange am rechten Arm ist etwas unbeweglich. Wenn wir noch ein paar Stunden Zeit hätten, würde ich sie noch einmal ausbauen und gängig machen.«
»Du wirst die Zange sowieso nicht brauchen«, warf Fritz ein.
»Sie funktioniert schon«, sagte der Techniker. »Nur nicht so gut, wie sie es eigentlich sollte.«
Wenn es gut genug für Fritz ist, ist es in Ordnung, sagte Gaeta sich.
»Ich werde sie noch einmal überprüfen«, sagte Fritz.
Gaeta nickte lächelnd. Damit hatte er schon gerechnet. Es gab in seiner Welt drei Qualitätskriterien: durchschnittlich, überdurchschnittlich — und Fritz. Das scharfe Auge und die hohen Qualitätsansprüche seines Cheftechnikers hatten Gaeta mehr als einmal das Leben gerettet.
Nach nicht einmal einer halben Stunde hatte Holly die Verfolger in den Tunnels abgehängt. Sie war durch eine Zugangsluke geschlüpft, eine Leiter hinabgeklettert und dann leichtfüßig den unteren Tunnel entlanggelaufen, bis sie zum großen Ventil an der Wasserlinie kam. Holly wusste, dass diese Rohrleitung eine Reserveleitung war und nur dann benutzt wurde, wenn die Hauptleitung wegen einer Inspektion oder Reparatur abgesperrt wurde. Also gab sie die Code-Kombination ins elektronische Schloss der Luke ein und kroch in das dunkle Rohr. Dann schloss sie geräuschlos die Luke hinter sich.
Sie vermochte sich in der Röhre nicht aufzurichten und nicht einmal zu knien. Sie rutschte fast von selbst auf dem Bauch entlang. Die Röhre war trocken, und die glatte Plastikauskleidung war eine gute Rutschbahn. Das einzige Problem bestand darin, in der Dunkelheit die Entfernung abzuschätzen; deshalb benutzte sie einen Punktstrahler, um die Luken auszumachen. Holly kannte die Abstände zwischen den Luken auf den Zentimeter genau. Nachdem sie einen halben Kilometer gekrochen war, hielt sie an und öffnete eins der Lunchpakete, die sie mitgenommen hatte.
Während sie im trüben Schein der Taschenlampe das Sandwich mampfte, fühlte sie sich fast wie eine Maus in ihrem Bau. Sie wusste, dass dort draußen große Katzen lauerten. Aber hier bin ich sicher. Es sei denn, jemand kommt auf die Idee, diese Reserveleitung zu fluten. Dann werde ich eine ersoffene Maus sein.
Die beiden schwarz gekleideten Sicherheitsleute standen unsicher im Tunnel und ließen den Blick an den Rohrleitungen und Kabelsträngen entlang schweifen.
»Sie ist uns entwischt«, sagte der eine zum dritten Verfolger, der einen grauen Jogginganzug trug. Er war groß, langgliedrig und hatte kein Gramm Fett zu viel. Er sah aus wie ein Athlet, der jeden Tag hart trainierte.
Er hielt den Geruchsdetektor in der Hand — ein längliches Kästchen in der gleichen Farbe wie sein Jogginganzug.
»Sie ist definitiv aus dieser Richtung gekommen«, sagte er.
»Aber wohin ist sie verschwunden?«, fragte die Frau.
»Das ist nicht mehr euer Problem. Ich übernehme nun. Ihr könnt zurückgehen und dem Boss Meldung machen.«
Sie hatten es aber nicht eilig zu gehen; nicht etwa, weil sie so diensteifrig gewesen wären, sondern weil sie keine Lust hatten, Kananga mit leeren Händen unter die Augen zu treten.
»Bist du sicher, dass du keine Hilfe brauchst?«, fragte der Mann.
Der grau gekleidete Scout lächelte nur und hielt den elektronischen Detektor hoch. »Ich habe jede Hilfe, die ich brauche.«
Gaeta war zuvor schon im Raumboot gewesen. Fritz hatte darauf bestanden, dass der Stuntman sich mit dem Raumfahrzeug vertraut machte, das ihn vom Habitat zu den Ringen befördern würde. Manny hatte festgestellt, dass das Boot sich kaum von den vielen Dutzend anderen unterschied, die er bereits gesehen hatte: zweckmäßig, spartanisch und auf Effizienz, nicht auf Komfort ausgelegt. Das Cockpit bestand aus zwei Sitzen, die in die Flugsteuerungskonsolen hineinragten. Dahinter gab es einen winzigen ›Aufenthaltsraum‹ mit einer Vakuum-Toilette, die gleich rechts neben dem Gefrierfach und dem Mikrowellenofen in die Wand eingelassen war. Das Waschbecken befand sich auch dort. Zwei Netzschlafsäcke hingen an der gegenüberliegenden Wand.
Die Ladebucht war mit Druck beaufschlagt. Während Timoschenko die Systeme des Raumfahrzeugs also zum letzten Mal ausprüfte, schlüpfte Gaeta durch die Luke und kontrollierte den Anzug.
Er füllte die Ladebucht fast ganz aus, wobei der Helm das Oberlicht verdeckte. Gaeta schaute zum Helmvisier hoch. Manche Leute schauderten, wenn sie den Anzug zum ersten Mal sahen. Gaeta hatte jedoch immer das Gefühl, als ob er seinem Zwillingsbruder begegnete. Gemeinsam waren sie viel mehr als die Summe der einzelnen Teile: der Anzug eine leere Hülle, der Mensch ein hilfloser Schwächling. Doch zusammen — zusammen haben wir schon großartige Leistungen vollbracht, nicht wahr? Gaeta hob den Arm und tätschelte den Oberarm des Anzugs. Er stellte fest, dass ein paar Dellen, die der Simulationstest in der gepanzerten Brust des Anzugs hinterlassen hatte, noch nicht ausgebeult worden waren. Er schüttelte den Kopf und sagte sich, dass er das bei Fritz würde reklamieren müssen. Er hätte dich besser behandeln müssen, sagte Gaeta zum Anzug.
»Start in fünf Minuten«, drang Timoschenkos Stimme durch die offene Cockpitluke. »Du musst dich angurten.«
Gaeta nickte. Mit einem letzten Blick auf den Anzug drehte er sich um und ging ins Cockpit zurück, um die Reise durch die Ringe des Saturns anzutreten.
Kris Cardenas versuchte sich in den letzten Stunden vor Gaetas Start irgendwie zu beschäftigen. Eberly hatte das Nano-Labor wieder freigegeben; also war sie dorthin gegangen, wo sie wirkliche Arbeit zu erledigen hatte. Es war jedenfalls besser, als im Apartment zu hocken und die Tränen zu unterdrücken wie ein hilfloses Weibchen, das brav zu Hause wartete, während ihr Mann in die Schlacht zog.