Missbilligend stellte sie fest, dass Tavalera nicht an der Arbeit war; dann sagte sie sich jedoch, dass er wahrscheinlich noch nichts wusste von der Öffnung des Labors. Sie versuchte ihn telefonisch zu erreichen, aber das Kommunikationssystem vermochte ihn nicht zu finden, und sein Palmtop war ausgeschaltet.
Das sieht Raoul aber gar nicht ähnlich, sagte sie sich. Er ist doch sonst so zuverlässig.
Sie spielte mit dem Gedanken, Reparatur-Nanos für Urbains Titan-Landefahrzeug zu konstruieren; dann legte sie es ad acta und wandte sich dem Video zu.
»Dies ist das Raumboot«, sagte Zeke Berkowitz mit einer Stimme auf dem schmalen Grat zwischen überzeugter Selbstsicherheit und überschwänglicher Begeisterung. »In genau fünfzehn Sekunden wird es vom Habitat ablegen und die Reise antreten, die Manuel Gaeta in die Ringe des Saturns bringt.«
Cardenas sah das Habitat aus der Außenperspektive. Sie wusste, dass Berkowitz' Sendung an alle Mediennetzwerke auf der Erde übertragen wurde, und sie hörte, wie die Computerstimme die letzten Sekunden herunterzählte.
»Drei… zwei… eins… Start.«
Das Raumboot löste sich von der weiten, gewölbten Oberfläche des Habitats — es wirkte wie ein kantiger metallener Floh, der von einem Elefanten sprang. Vorm Hintergrund des irisierenden Glühens des vielfarbigen Saturns stieg das Raumboot auf, drehte sich langsam und verschwand dann aus dem Blickfeld.
»Manuel Gaeta ist unterwegs«, verkündete Berkowitz gewichtig. »Er wird als erster Mensch die mysteriösen und faszinierenden Saturnringe durchqueren.«
»Auf Wiedersehen, Manny«, flüsterte Cardenas in der sicheren Überzeugung, ihn nie wieder zu sehen.
Durch die Ringe
Obwohl sie wusste, dass sie in der Reserve-Pipeline völlig sicher war, verspürte Holly doch zunehmendes Unbehagen. Vor dem geistigen Auge sah sie, wie irgendein Wartungs- Ingenieur beiläufig den Hauptwasserfluss des Habitats von der Primär-Pipeline zur Reserve-Rohrleitung umleitete.
Dieser Routinevorgang würde tödliche Konsequenzen für sie haben: Eine schäumende Wasserwand würde durch die Röhre auf sie zuschießen, gegen sie anbranden und mit unwiderstehlicher Wucht mitreißen — sie würde von den Fluten umhergewirbelt und ertrinken.
Was soll der Blödsinn, rügte sie sich. Du machst dich nur selbst verrückt wie ein kleines Kind, das sich vor Ungeheuern unterm Bett fürchtet. Dennoch lauschte sie, während sie durch die trockene Pipeline kroch, nach dem Rauschen von Wasser und tastete mit den Fingerspitzen nach der leichtesten Erschütterung der Röhre. Zumal die Rohrleitung doch nicht so trocken war: Hier und da sagten feuchte Stellen und sogar Pfützen ihr, dass vor nicht allzu langer Zeit hier Wasser durchgeflossen war.
Ursprünglich hatte sie in der Pipeline bleiben wollen, bis sie am Habitat-Ende eine große U-Kurve beschrieb. Vielleicht würde sie doch früher aussteigen. Sie verspürte nämlich das Bedürfnis, wieder aufrecht zu stehen und sich zu recken und zu strecken. Also rutschte sie weiter durch die Pipeline, wobei die Angst vorm Ertrinken ständig an ihr nagte.
Der Scout erreichte mit Leichtigkeit die Luke, durch die Holly in die Pipeline eingestiegen war. Der elektronische Detektor folgte der Geruchsspur, die sie hinterlassen hatte, ohne Probleme. Mein braver Bluthund, sagte er sich mit einem schiefen Lächeln.
Nun musste er eine Entscheidung treffen. Soll ich in die Rohrleitung gehen und ihr folgen oder draußen bleiben? Er beschloss, draußen zu bleiben. Er käme schneller voran, wenn er ging, als wenn er durch die dunkle Rohrleitung kröche. Sie muss früher oder später herauskommen, und wenn sie das tut, wird das Spürgerät mir sagen, durch welche Luke sie ausgestiegen ist.
Aber welche Richtung hat sie eingeschlagen? Er wusste, dass sie sich von der Ortschaft entfernte und in Richtung des Habitat-Endes bewegte. Ich werde diesem Vektor folgen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie umgekehrt ist und wieder zur Ortschaft zurückgeht, ist ziemlich gering. Trotzdem rief er Kananga an. Er schilderte ihm die Situation und riet ihm, ein paar Leute an den Pipeline-Luken in der Nähe der Ortschaft zu postieren.
»Ich werde etwas ganz anderes tun«, sagte Kananga mit einem sardonischen Grinsen. »Ich werde die Instandhaltung anweisen, den Hauptwasserfluss in diese Rohrleitung umzuleiten. Dann wird sie herausgespült.«
Tavalera fuhr mit dem Fahrrad auf dem Pfad, der sich durch die Obstgärten und das Ackerland zog, zum Habitat-Ende. Er ließ das Rad am Ende des Pfads stehen und folgte dem Gehweg, der durch den Wald am Ende des Habitats führte. Es war ein merkwürdiges Gefühclass="underline" Er sah, dass er eine leichte Steigung erklomm und hatte dennoch das Gefühl, bergab zu gehen; die Gravitation nahm mit jedem Schritt spürbar ab.
Schließlich erreichte er die Stelle im Wald, wo er und Holly einmal gepicknickt hatten. Ich kann nicht das ganze Habitat nach dir absuchen, Holly, sagte er sich. Also musst du zu mir kommen.
Tavalera setzte sich auf den Boden und wartete darauf, dass sie auftauchte. Das war nach seinem Dafürhalten die beste Vorgehensweise.
Gaeta verspürte die gleiche Aufregung, die ihn immer befiel, wenn er im Anzug eingeschlossen war, wenn alle Systeme eingeschaltet waren und funktionierten. Aber es war nicht nur Aufregung. Was er verspürte, war ein Gefühl der Macht. Der Anzug verlieh ihm die Kraft eines Halbgottes. Der Anzug schützte ihn vor den Gefahren, mit denen das Universum ihn bedrohte. Er fühlte sich praktisch unverletzlich und unbesiegbar. Wenn du dich weiter dieser Illusion hingibst, wirst du am Ende tot sein, ermahnte er sich. Atme tief durch und mach dich an die Arbeit. Und vergiss nicht, dass es verdammt gefährlich ist dort draußen.
Trotzdem fühlte er sich wie Superman.
»Wir nähern uns dem Eintrittspunkt«, ertönte Timoschenkos rauhe Stimme im Helm-Kopfhörer.
Gaeta nickte. »Der Anzug ist geschlossen. Öffne die Ladeluke.«
»Öffne Luke.«
Gaeta hatte diese Prozedur schon viele Male durchlaufen. Er verspürte immer einen Nervenkitzel, wenn die Luke aufglitt und er ins Universum mit der endlosen schwarzen Leere und den unzähligen leuchtenden Sternen schaute. Diesmal war es jedoch etwas anderes.
Als die Luke sich öffnete, wurde die Ladebucht mit Licht geflutet — mit blendendem, gleißendem Licht. Gaeta schaute auf ein schier endloses, strahlend weißes Feld: so weit das Auge reichte, war nichts außer glitzerndem, funkelndem Licht. Es war wie der Blick auf einen mächtigen Gletscher oder ein Schneefeld, das sich bis in die Unendlichkeit erstreckte.
Nein, sagte er sich, es ist wie der Anblick einer ganzen Welt aus Diamanten: aus funkelnden Diamanten. Und sie sind nicht nur weiß; sie leuchten und schimmern wie Diamanten, wie Milliarden heller, wunderschöner Edelsteine, die von einem Ende des Universums bis zum anderen verstreut sind.
»Jesus Cristo«, murmelte er atemlos.
»Was war das?«, fragte Timoschenko.
»Ich steige aus«, sagte Gaeta.
»Das Flugbahn-Programm ist einsatzbereit?«
Gaeta rief das Flugbahn-Programm mit einem Sprachbefehl auf. Es projizierte die bunten Kurven aufs Innere des Helmvisiers.
»Einsatzbereit.«
»Fertig für Ausstieg in acht Sekunden. Sieben…«
Gaeta musste sich mit einer Willensanstrengung auf die vor ihm liegende Aufgabe konzentrieren. Sein Blick schweifte immer wieder übers endlose Feld aus gleißenden Edelsteinen, das sich vor ihm ausbreitete.
Das sind nur Eisflocken, sagte er sich. Nichts anderes als Staubflocken mit einem Eisüberzug.
Ja, sagte eine Stimme in seinem Kopf. Und Diamanten sind nichts anderes als Kohlenstoff. Und die Mona Lisa ist auch nichts anderes als ein paar Farbkleckse auf einem Stück Leinwand.