Выбрать главу

Harry wußte nicht, was über sie gekommen war. Vielleicht war es das unterdrückte Leid im Hause Craycroft oder der Anblick von Mim, die grimmig ihre Pflicht erfüllte. Wären nicht alle besser dran, wenn sie Gott ihren Zorn zubrüllen und sich die Haare raufen würden? Diese Gefaßtheit erschreckte sie. Jedenfalls starrte sie Little Marilyn direkt in die tiefblauen Augen und sagte: »Marilyn, weiß Stafford, daß du heiratest?«

Little Marilyn stammelte fassungslos: »Nein.«

»Wir sind nicht besonders befreundet, Marilyn. Aber wenn ich auch im Leben nie wieder etwas für dich tue, laß mich dies eine sagen: Lade deinen Bruder zu deiner Hochzeit ein. Du liebst ihn, und er liebt dich.« Harry stellte ihre Ingwerlimonade hin und ging.

Little Marilyn, das Gesicht flammend rot angelaufen, sagte nichts. Dann begab sie sich schleunigst zu Mutter und Vater.

Bob Berrymans Hand ruhte auf dem Türknauf von Maudes Laden. Sie hatte die Lichter ausgeknipst. Niemand konnte sie sehen, das dachten sie jedenfalls.

»Ahnt sie etwas?« flüsterte Maude.

»Nein«, sagte Berryman, um sie zu beruhigen. »Keiner ahnt etwas.«

Er schlüpfte leise zur Hintertür hinaus und hielt sich im Schatten. Seinen Lieferwagen hatte er einige Straßen entfernt geparkt.

Pewter, die sich auf einem mitternächtlichen Spaziergang befand, beobachtete seinen Abgang. Sie merkte sich gut, was er tat, und auch, daß Maude ein paar Minuten wartete, bevor sie in ihre Wohnung über dem Laden hinaufging. Die Lichter gingen an, und Pewter warf einen schmachtenden Blick auf die Fledermäuse, die zwischen den hohen Bäumen und Maudes Fenster hin- und herflitzten.

An diesem Abend versuchten Mrs. Murphy und Tucker, Harry von ihrer gedrückten Stimmung abzulenken. Ein Lieblingstrick von ihnen war das Prärie-Indianerspiel. Mrs. Murphy legte sich auf den Rücken, umklammerte Tucker und hing an ihr wie ein Indianer unter einem Pferd. Tucker brüllte:»Jijiji«, als ob sie sich fürchtete, dann versuchte sie, ihren Passagier abzuwerfen. Harry lachte immer, wenn sie das machten. Heute abend lächelte sie nur.

Hund und Katze folgten ihr ins Bett, und als sie sicher waren, daß sie fest schlief, stürmten sie zur Hintertür hinaus, in die ein Katzentürchen gesägt war und die auf einen Hundeauslauf hinausging. Mrs. Murphy konnte den Riegel betätigen, und die beiden sprangen über die Wiesen, die nach frisch gemähtem Heu dufteten.

Nicht ein Auto war auf der Straße.

Gut einen halben Kilometer von der Betonfabrik spähte Mrs. Murphy mit glitzernden Augen ins Gebüsch.»Waschbär voraus.«

»Glaubst du, er wird kämpfen?« Tucker blieb einen Moment stehen.

»Wenn wir einen Umweg machen müssen, sind wir womöglich nicht bis morgen früh zurück.«

Tucker rief laut:»Wir jagen dich nicht. Wir sind auf dem Weg zur Betonfabrik.«

»Wer's glaubt, wird selig«, fauchte der Waschbär.

»Ehrlich, wir tun dir nichts.« Mrs. Murphy klang überzeugender als Tucker.

»Vielleicht nicht, vielleicht aber auch doch. Gebt mir einen Vorsprung. Dann glaub ich euch vielleicht.« Damit verschwand das listige Tier im Gebüsch.

»Weiter«, sagte Mrs. Murphy.

»Hoffentlich hält er sein Versprechen. Ich hab heute abend keine Lust auf einen Kampf mit einem von der Sorte.«

Der Waschbär hielt Wort und sprang sie nicht an, und nach einer Viertelstunde kamen sie zu der Fabrik.

Der Tau hielt die Witterung, die noch auf dem Boden war. Viel hatte sich verflüchtigt. Benzindämpfe und Steinstaub überwogen. Menschengerüche waren überall, ebenso der Geruch von nassem Beton und schalem Blut. Tucker, die Nase auf der Erde, nahm die Witterung auf. Mrs. Murphy untersuchte das Bürogebäude, aber sie kam nicht hinein. Kein Fenster stand offen, und im Fundament gab es keine Hohlräume. Sie murrte.

Ein scharfer Geruch sprang Tucker in die Nase.

»Hier!«

Mrs. Murphy raste hin und hielt ihre Nase auf die Erde.»Wo

führt das hin?«

»Nirgends.« Tucker konnte sich das nicht erklären.»Es ist bloß ein Hauch, wie ein kleiner Punkt. Keine Linie. Wie wenn etwas verschüttet worden wäre.«

»Riecht wirklich nach Schildkröte.« Die Katze kratzte sich hinter den Ohren.

»So ähnlich.«

»So was hab ich noch nie gerochen - du?«

»Nie.«

5

Nicht einmal Mrs. George Hogendobbers leidenschaftlicher Monolog über das Böse auf dieser Welt vermochte Mrs. Murphy und Tucker aufzurütteln. Mrs. Hogendobber war noch nicht mit beiden Füßen durch die Eingangstür, als sie schon erklärt hatte, daß Adam wegen des Apfels in Ungnade gefallen sei, daß der Mensch danach das Bündnis mit Gott gebrochen und eine Flut uns reingewaschen habe, indem sie alle bis auf Noah und seine Familie tötete. Moses konnte seine Schar nicht von der Anbetung des Goldenen Kalbs abhalten, und Isebel stünde an jeder Straßenecke, von Plattencovern gar nicht zu reden. Sie verkündete dies alles nicht unbedingt in einer historisch korrekten Reihenfolge, doch ihre Rede war erkennbar von einem roten Faden durchzogen: Wir sind von Natur aus sündig und unrein. Das führte natürlich zu Kelly Craycrofts Tod. Mrs. H. griff weit aus, um exakt aufzudecken, wie die hebräische Geschichte, so wie sie im Alten Testament niedergeschrieben war, im Untergang eines Straßenbauunternehmers kulminierte.

Harry dachte sich, wenn Mrs. Hogendobber mit ihrer lückenhaften Logik leben konnte, dann konnte sie es auch.

Während Mrs. Hogendobber ihre Postwurfsendungen in den Papierkorb warf, ließ sie sich weitschweifig über Holofernes und Judith aus. Bevor sie bei deren schauerlichem biblischem Ende anlangte, hielt sie inne - was an sich schon eine ausgesprochene Seltenheit war -, trat an den Schalter und spähte hinüber. »Wo sind die Tiere?«

»Völlig weggetreten. Diese Faulpelze«, antwortete Harry. »Sie waren heute morgen so träge, daß ich sie wahrhaftig zur Arbeit gefahren habe.«

»Sie verwöhnen diese Kreaturen, Harry, und Sie brauchen einen neuen Wagen.«

»Ich bekenne mich in allen Punkten der Anklage schuldig.«

Josiah kam herein, als Harry das Wort »schuldig« aussprach.

»Ich habe gleich gewußt, daß du es warst.« Er deutete auf Harry. Das sanfte Pink seines Ralph Lauren-Polohemds unterstrich seine Sonnenbräune.

»Über solche Dinge macht man keine Witze.« Mrs. Hogendobbers Nasenlöcher flatterten.

»Na hören Sie mal, Mrs. Hogendobber, ich mache doch keine Witze, nicht über den Craycroft-Mord. Sie sind überempfindlich. Das sind wir alle. Es war ein furchtbarer Schock.«

»Und ob und ob. Setzet euren Glauben nicht in weltliche Dinge, heißt es, Mr. DeWitt.«

Josiah strahlte sie an. »Das tu ich leider, Madam. In einer Welt der Unbeständigkeit greife ich zu der besten Unbeständigkeit, die ich finden kann.«

Wie ein Wirbel stieg die Röte in Mrs. Hogendobbers hübsch konservierte Wangen. »Sie sind geistreich, umschwärmt und ungemein gerissen. Mit Leuten wie Ihnen nimmt es ein schlimmes Ende.«

»Vielleicht, aber denken Sie daran, wie gut ich mich bis dahin amüsieren werde. Sie sehen wirklich nicht so aus, als ob Sie sich jemals amüsieren würden.«

»Ich lasse mich nicht beleidigen.« Mrs. Hogendobbers Gesicht glühte puterrot.