»Das habe ich nicht gewußt.« Harry liebte Geschichte.
»Wenn es um fortschrittliche Projekte geht, ob kommerziell oder intellektuell, könnt ihr euch darauf verlassen, daß die Legislative von Virginia sie ablehnt.« Maude schüttelte den Kopf. »Es ist, als würden sie mit Absicht jede Chance verpassen. Lauter Waschlappen.«
»Ja, das ist wahr«, pflichtete Fair ihr bei. »Aber andererseits haben wir nicht die Probleme, die man an fortschrittlichen Orten kriegt. Wir haben eine niedrige Kriminalitätsrate, ausgenommen in Richmond. Wir haben Vollbeschäftigung in unserem Staat, und wir führen ein gutes Leben. Wir werden nicht schnell reich, aber wir behalten, was wir erreicht haben. Das ist vielleicht gar nicht so übel. Du bist jedenfalls hierher gezogen, oder?«
Maude überlegte. »Eins zu null für dich. Aber manchmal, Fair, macht es mich fertig, daß dieser Staat so rückständig ist. Wenn North Carolina uns austrickst und den Überfluß genießt, was soll man davon halten?«
»Woher hast du das über die Eisenbahnen?«
»Aus der Bibliothek. Es gibt dort ein Buch, eigentlich eine lange Monographie, über Crozets Leben. Da ich nicht den Vorzug habe, in Crozet aufgewachsen zu sein, dachte ich, ich hole das am besten irgendwie auf. Schade, daß die Züge hier nicht mehr halten.«
»Gelegentlich hält einer. Wenn du den Präsidenten der Chesapeake-Ohio anrufst und - als Fahrgast - einen Extrahalt forderst, müssen sie gleich neben dem Postamt beim alten Bahnhof für dich halten.«
»Hat das jemand in letzter Zeit mal getan?« Maude fand es unglaublich.
»Mim Sanburne letztes Jahr. Sie haben gehalten.« Fair lächelte.
»Ich denke, ich werd's versuchen«, sagte Maude. »Jetzt muß ich aber wieder in meinen Laden. Erhalte dein Geschäft, und dein Geschäft erhält dich. Bye.«
Pewter rekelte sich auf dem Schalter, während Harry die Colaflaschen hinten in dem kleinen Kühlschrank verstaute. Mrs. Murphy blieb in dem Postbehälter und hoffte auf eine neue Fahrt.
»Soll das ein Versöhnungsangebot sein?« Harry schloß die Kühlschranktür.
»Ich weiß nicht.« Und Fair wußte es wirklich nicht. Es war ihm im Laufe der Jahre zur Gewohnheit geworden, Harry Cola zu bringen. »Hör mal, Harry, können wir die Scheidung nicht auf anständige Weise hinter uns bringen?«
»Alles ist anständig, bis Geld ins Spiel kommt.«
»Du hast Ned Tucker engagiert. Sobald Anwälte ins Spiel kommen, ist alles Scheiße.«
»1658 erließ die gesetzgebende Versammlung von Virginia ein Gesetz, das alle Rechtsanwälte aus der Kolonie verbannte.« Harry verschränkte die Arme.
»Die einzige kluge Entscheidung, die sie je getroffen hat.« Fair lehnte sich an den Schalter.
»Sie wurde 1680 rückgängig gemacht.« Harry holte tief Luft. »Fair, eine Scheidung ist ein gerichtlicher Prozeß. Ich mußte mir einen Anwalt nehmen. Ned ist ein alter Freund von mir.«
»He, er war auch mein Freund. Hättest du dich nicht an eine neutrale Partei wenden können?«
»Wir sind hier in Crozet. Hier gibt's keine neutralen Parteien.«
»Deswegen habe ich mir einen Anwalt in Richmond genommen.«
»Du kannst dir die Preise in Richmond leisten.«
»Fang nicht wieder mit Geld an, verdammt noch mal.« Fair klang gequält. »Eine Scheidung ist die einzige menschliche Tragödie, die sich aufs Geld reduziert.«
»Es ist keine Tragödie. Es ist ein Prozeß.« In diesem Punkt war Harry dauernd von dem Zwang getrieben, ihm zu widersprechen oder ihn zu korrigieren. Ihr war das halbwegs bewußt, aber sie konnte sich nicht bremsen.
»Damit kann ich zehn Jahre meines Lebens in den Schornstein schreiben.«
»Nicht ganz zehn.«
»Verdammt, Harry, der Punkt ist, daß das ganze keine leichte Sache ist - und es war nicht meine Idee.«
»Ach, spiel nicht die beleidigte Leberwurst. Du warst in dieser Ehe nicht glücklicher als ich!«
»Aber ich dachte, alles wäre bestens.«
»Solange du gefüttert und gefickt wurdest, dachtest du, alles wäre bestens!« Harry senkte die Stimme. »Unser Haus war für dich ein Hotel. Mein Gott, wenn du mal den Staubsauger in die Hand genommen hast, haben die Engel im Himmel gesungen.«
»Wir hatten kein Geld für ein Hausmädchen«, brummte er.
»Also war ich das Mädchen. Wieso ist deine Zeit kostbarer als meine? Herrgott, ich hab sogar deine Klamotten gekauft, deine Unterhosen.« Aus irgendeinem Grund war dies für Harry bedeutsam.
Fair schwieg einen Moment, um nicht die Beherrschung zu verlieren, und sagte dann: »Ich verdiene mehr. Wenn ich auf Abruf bereit sein mußte, dann mußte es eben sein.«
»Ach, weißt du, eigentlich ist mir das inzwischen ziemlich egal.« Harry ließ die Arme sinken und machte einen Schritt auf ihn zu. »Was ich wissen will, warst du. hast du. gehst du mit Boom Boom Craycroft ins Bett?«
»Nein!« Fair wirkte verletzt. »Das hab ich dir schon mal gesagt. Ich war auf der Party betrunken. Ich - okay, ich hab mich weiß Gott nicht wie ein Gentleman benommen. aber das ist ein Jahr her.«
»Ich weiß. Ich war dabei, erinnerst du dich? Ich frage, was jetzt ist, Fair.«
Er blinzelte, dann festigte sich sein Blick. »Nein.«
Während die Menschen einander beschimpften, sagte Tucker, die es satt hatte, auf dem Fußboden von dem Katzentreiben ausgeschlossen zu sein:»Pewter, wir waren bei Kelly Craycrofts Betonfabrik.«
Pewter war plötzlich hellwach. Sie setzte sich auf. »Weshalb?«
»Wir wollten selber schnüffeln.«
»Wie kann Mrs. Murphy was riechen? Sie trägt die Nase immer so hoch.«
»Halt die Schnauze.« Mrs. Murphy steckte den Kopf aus dem Postbehälter.
»So was Ungehobeltes.« Pewter zog die Schnurrhaare zurück.
»Ich hab Tucker gemeint, aber du kannst ruhig auch die Schnauze halten. So schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe.«
»Warum hast du gesagt, ich soll die Schnauze halten? Ich hab nichts getan.« Tucker war gekränkt.
»Das sag ich dir später«, erwiderte die Tigerkatze.
»Es ist kein Geheimnis. Ozzie hat es vermutlich unterdessen in drei Bezirken ausgeplappert - in unserem, in Orange und in Nelson. Vielleicht weiß es ganz Virginia, weil Bob Berryman seine Viehtransporte überallhin liefert und Ozzie ihn begleitet«, jaulte Tucker.
»Tu, was du nicht lassen kannst.« Mrs. Murphy wußte, daß Tucker reden würde.
»Sagt, was hat Ozzie geplappert, und warum seid ihr zu der Betonfabrik gegangen?« Pewters Pupillen wurden groß.
»Ozzie hat gesagt, da wäre ein komischer Geruch. Und so war es.« Tucker gefiel die Wendung des Gesprächs.
Pewter spottete:»Natürlich war da ein komischer Geruch, Tucker. Aus einem Mann wurde Hackfleisch gemacht, und an dem Tag waren drückende sechsunddreißig Grad. Das können sogar Menschen riechen.«
»Das war es nicht.« Mrs. Murphy kroch aus dem Postbehälter, enttäuscht, weil Harry das Interesse an dem Spiel verloren und ihre ganze Aufmerksamkeit Fair zugewandt hatte.
»Rettungsdienstgerüche«, tippte Pewter aufs Geratewohl.
»Es roch nach Schildkröte.«
»Was?« Die Schnurrhaare der dicken Katze schnellten wieder vor.
Mrs. Murphy sprang auf den Schalter und setzte sich neben Pewter. Wenn Tucker schon quatschte, konnte sie sich ebensogut beteiligen.»Ja. Als wir ankamen, war die meiste Witterung verflogen, aber dieser leichte Amphibiengeruch war noch da.«