Harry schloß die Tür auf und betrat ihre Dienststelle in genau dem Augenblick, als die große Bahnhofsuhr sieben schlug, sieben Uhr früh. Mrs. Murphy sauste wie der Blitz an ihr vorbei; Tucker kam in gemächlicherer Gangart nach.
Ein leerer Postbehälter lockte Mrs. Murphy. Sie hüpfte hinein. Tucker beklagte sich, daß sie nicht hineinspringen konnte.
»Sei still, Tucker. Mrs. Murphy ist gleich wieder draußen - nicht wahr?« Harry beugte sich über den Behälter.
Mrs. Murphy starrte zu ihr hinauf und sagte:»Von wegen. Laß Tucker nur meckern. Sie hat heute morgen mein Katzenminze- Säckchen geklaut.«
Alles was Harry hörte, war ein Maunzen.
Die Corgihündin hörte jedes Wort.»Du bist ein richtiges Luder, Mrs. Murphy. Du hast massenhaft solche Säckchen.«
Mrs. Murphy legte die Pfoten auf den Rand des Behälters und lugte hinüber.»Na und? Ich habe nicht gesagt, daß du auch nur mit einem davon spielen darfst.«
»Laß das, Tucker.« Harry dachte, der Hund knurre völlig grundlos.
Draußen hupte es. Rob Collier, der den großen Postwagen fuhr, lieferte die Morgenpost. Um vier Uhr nachmittags würde er wiederkommen, um Post abzuholen.
»Du bist früh dran«, rief Harry ihm zu.
»Wollte dir 'nen Gefallen tun.« Rob lächelte. »Weil nämlich in genau einer Stunde Mrs. Hogendobber schnaufend und prustend vor dieser Tür stehen wird, um ihre Post zu holen.« Er ließ zwei große Postsäcke auf die Vordertreppe plumpsen und kehrte zum Wagen zurück. Harry trug die Säcke hinein.
»He, das hätte ich für dich machen können.«
»Ich weiß«, sagte Harry. »Ich brauch Bewegung.«
Tucker erschien in der Tür.
»Hallo, Tucker«, begrüßte Rob den Hund. Tucker wedelte mit dem Schwanz. »Na gut, weder Regen noch Glatteis noch Schnee und so weiter.« Rob rutschte hinters Lenkrad.
»Es sind fünfundzwanzig Grad um sieben Uhr früh, Rob. Ich an deiner Stelle würde mir keine Sorgen um das Glatteis machen.«
Er lächelte und fuhr los.
Harry öffnete den ersten Sack. Mrs. Hogendobbers Post lag zuoberst, ordentlich mit einem dicken Gummiband gebündelt. Wenn Rob Zeit hatte, legte er Mrs. Hogendobbers Post im Hauptpostamt in Charlottesville auf einen Extrahaufen. Harry steckte die Handvoll Briefe in den Schlitz des Postfachs. Danach begann sie, den Rest zu sortieren: Rechnungen, genügend Versandhauskataloge, um sämtliche Männer, Frauen und Kinder in den Vereinigten Staaten neu einzukleiden, und natürlich private Briefe und Postkarten.
Courtney Shiflett, Markets vierzehnjährige Tochter, erhielt eine Postkarte von Sally McIntire aus einem Ferienlager. Kelly Craycroft, der gutaussehende, reiche Inhaber einer Straßenbaufirma, war der Empfänger einer Glanzpostkarte aus Paris. Es war eine Fotografie von einem schönen Engel mit Flügeln. Harry drehte sie um. Es handelte sich um den Grabstein Oscar Wildes auf dem Friedhof Pere Lachaise. »Schade, daß Du nicht hier bist«, stand auf der Karte. Keine Unterschrift. Die Handschrift war eine Computerschrift, wie der Namenszug auf den Briefen, die man von seinem Kongreßabgeordneten kriegte. Harry seufzte und steckte die Karte in Kellys Postfach. Es wäre himmlisch, in Paris zu sein.
Schneebedeckte Alpen prangten majestätisch auf einer an Harry adressierten Postkarte von ihrer Freundin seit Kindertagen, Lindsay Astrove.
Liebe Harry,
bin in Zürich angekommen. Keine Gartenzwerge in Sicht.
Flug kein Problem. Bin sehr müde. Schreibe später
ausführlich.
Es wäre himmlisch, in Zürich zu sein.
Bob Berryman, der größte Viehtransporthändler im Süden, erhielt einen eingeschriebenen Brief vom Finanzamt. Harry steckte ihn behutsam in sein Fach.
Harrys beste Freundin, Susan Tucker, bekam ein großes Paket vom James River-Versand, vermutlich die reduzierten Baumwollpullover, die sie bestellt hatte. Susan, besonnen wie sie war, wartete immer den Ausverkauf ab. Sie war die »Mutter« von Tee Tucker, Tee genannt, weil Susan sie Harry beim siebten Tee im Farmington Golf Club geschenkt hatte. Mrs. Murphy, zwei Jahre älter als der Hund, war nicht erbaut gewesen, aber sie fand sich allmählich damit ab.
Eine Gary Larsen-Postkarte zog Harrys Aufmerksamkeit auf sich. Harry drehte sie um. Sie war an Fair Haristeen adressiert, Harrys baldigen Ex-Gatten (wenn auch nicht bald genug). »Durchhalten, Kumpel«, lautete die Botschaft von Stafford Sanburne. Harry schmiß die Postkarte in Fairs Fach.
Crozet war so klein, daß die Leute sich genötigt sahen, bei einer Scheidung für eine Seite Partei zu ergreifen. Vielleicht war sogar New York City so klein. Harry jedenfalls schwankte täglich zwischen Wut und Kummer, wenn sie einstige Freunde ihre Wahl treffen sah. Die meisten schlugen sich auf Fairs Seite.
Immerhin hatte sie ihn verlassen und damit andere Frauen in Albemarle County in Rage gebracht, die auch in einer miesen Ehe festsaßen, aber nicht den Mut hatten abzuhauen. Das waren eine Menge Frauen.
»Gott sei Dank haben sie keine Kinder«, zischelten viele Zungen hinter Harrys Rücken und ihr ins Gesicht. Harry pflichtete ihnen bei. Mit Kindern würde die vermaledeite Scheidung ein Jahr dauern. Ohne dauerte der Schwebezustand nur sechs Monate, und zwei hatte sie hinter sich.
Bis es acht Uhr schlug, waren die beiden Postsäcke zusammengefaltet, die Schließfächer gefüllt, der alte Fichtenbohlenboden saubergefegt.
Mrs. George Hogendobber, praktizierende Protestantin, holte jeden Morgen um Punkt acht Uhr ihre Post ab, außer sonntags, wenn sie das Evangelium hörte und das Postamt geschlossen war. Sie machte sich viele Gedanken über die Evolution. Sie war entschlossen zu beweisen, daß der Mensch nicht vom Affen abstammte, sondern vielmehr nach Gottes Ebenbild geschaffen war.
Mrs. Murphy hoffte inständig, daß Mrs. Hogendobber dieser Beweis gelänge, denn die Verknüpfung von Mensch und Affe war eine Beleidigung für den Affen. Freilich würde die gute Frau vor Schreck sterben, wenn sie jemals entdeckte, daß Gott eine Katze war und der Mensch daher überhaupt nichts zu melden hatte.
Die große, von christlicher Gesinnung durchdrungene Gestalt hievte sich die Treppe hoch. Sie stieß mit der ihr eigenen Energie die Tür auf.
»Morgen, Harry.«
»Morgen, Mrs. Hogendobber. Hatten Sie ein schönes Wochenende?«
»Abgesehen von einem gelungenen Gottesdienst in der Kirche zum Heiligen Licht, nein.« Sie zog mit einem kräftigen Ruck ihre Post aus dem Fach. »Josiah DeWitt schaute vorbei, als ich nach Hause kam, und wollte mich beschwatzen, mich von Mutters Louis Seize-Bett zu trennen, mitsamt Baldachin und allem Drum und Dran. Und das am heiligen Sonntag. Der Mann ist ein Diener Mammons.«
»Ja - aber er erkennt gute Qualität mit einem Blick.« Harry schmeichelte ihr.
»Hmm, Louis hier und Louis da. Zu viele Louis' drüben in Frankreich. Es hat ein schlimmes Ende genommen, mit jedem einzelnen von ihnen. Ich glaube, die Franzosen haben seit Napoleon keinen bedeutenden Mann mehr hervorgebracht.«
»Was ist mit Claudius Crozet?«
Das ließ Mrs. Hogendobber einen Moment verstummen. »Ich glaube, Sie haben recht. Er schuf eines der technischen Wunder des neunzehnten Jahrhunderts. Ich bekenne meinen Irrtum. Aber das ist der einzige seit Napoleon.«
Die Stadt Crozet war nach eben diesem Claudius Crozet, geboren am 31. Dezember 1789, benannt. Der Ingenieur hatte mit den Franzosen in Rußland gekämpft und war auf dem schrecklichen Rückzug aus Moskau gefangengenommen worden. Der russische Offizier, der ihn erwischt hatte, war so angetan, daß er Claudius sofort auf sein großes Gut verfrachtete und mit Büchern und technischen Geräten versorgte. Claudius diente ihm, bis die Franzosen nach Hause zurückkehren durften. Es hieß, der Russe, ein Prinz von fürstlichem Geblüt, habe den jungen französischen Hauptmann mit Juwelen, Gold und Silber entlohnt.