Rob sah auf seine Uhr. »Ich muß los.«
Er sprang in dem Moment in seinen Postwagen, als Mrs. Murphy aus dem Postbehälter sprang.»Tucker, ich war müde. Deine Schnarcherei hat mich heute nacht wachgehalten.«
»Ich schnarche nicht.«
»Tust du wohl. Cchh, cchh.« Mrs. Murphy ahmte ein Schnarchen nach, aber es gelang ihr nicht besonders.
»Was ist mit euch beiden?« Harry ging zum Postbehälter. »Da ist nichts drin.« Mrs. Murphy rieb sich an ihrem Bein. Harry stieg schwungvoll in den Postbehälter, stieß sich mit einem Bein ab und hob dann auch dieses in den Behälter. »Juhuuh!«
Die Tür ging auf, als sie gegen die Wand krachte.
»Was machen Sie da, Mrs. Haristeen?« Rick Shaw unterdrückte ein Lachen.
Harry steckte den Kopf aus dem Behälter. »Die Katze hat so viel Spaß daran, hier drin zu stecken, daß ich dachte, ich versuch's auch mal. Himmel, heutzutage tu ich fast alles für ein bißchen Ablenkung.«
Rick angelte eine Zigarette aus seiner Tasche und drehte sie zwischen den Fingern. »Ich weiß, was Sie meinen.«
»Ich dachte, Sie hätten aufgehört.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ihre Augen folgen jeder angezündeten Zigarette.« »Sie sind eine gute Beobachterin, Harry.« Rick wußte das bei einem Menschen zu schätzen. »Zeigen Sie mal, was Sie gefunden haben.«
»Ich hätte nicht gedacht, daß Sie auf meinen Anruf so rasch reagieren wurden, nach dem Krach bei der Beerdigung heute.« Sie führte ihn ins Hinterzimmer. »Ich bin beeindruckt.«
Sie schloß die Tür und holte die beiden Friedhofspostkarten hervor. Sie reichte ihm das Vergrößerungsglas und legte die echte französische Postkarte auf den Tisch. Er schloß ein Auge und betrachtete die Karten, wobei er die unangezündete Zigarette in der linken Hand hielt.
»Aha«, war alles, was er sagte.
»Sehen Sie die leichte Abweichung bei der Stempelfarbe?«
»Ja.«
»Und die ganz kleine Verschiebung des>A< in Asheville.«
»Ja.« Rick drehte das Vergrößerungsglas in den Händen. Er gab Harry das Glas zurück. »Wer weiß sonst noch davon?«
»Susan Tucker. Rob weiß, daß ich eine Postkarte ausgeliehen habe, aber er weiß nicht, wozu.«
»Behalten Sie's für sich. Sie und Susan.«
»Machen wir.«
»Und jetzt erzählen Sie mir, was Ihre Katze und Ihr Hund in Maudes Laden gemacht haben.«
»Das weiß ich nicht.«
»Sie haben da drin herumgeschnüffelt, Harry. Lügen Sie mich nicht an.«
»Ich hab nicht geschnüffelt. Irgendwie sind die Tiere da drin eingeschlossen worden. Ich bin am Morgen aufgewacht und konnte sie nicht finden. Ich bin herumgefahren, ich habe herumtelefoniert. Und wie ich Ihnen schon sagte - Mrs. Hogendobber hat Tucker bellen gehört. Sie hat sie gefunden.«
»Ich glaube Ihnen. Tausende andere würden Ihnen nicht glauben.« Er ließ seine massige Gestalt auf einen Stuhl fallen. »Geben Sie mir 'ne Cola, ja?« Er zündete die Zigarette an, während Harry ihm eine Cola aus dem kleinen Kühlschrank holte. Nach einem tiefen Zug erschien ein Lächeln auf seinen Lippen. »Ist 'ne miese Angewohnheit, aber ein verdammt gutes Gefühl. Als nächstes probiere ich Ihren Postbehälter.« Er atmete ein. »Eigentlich bedaure ich es, daß ich wieder angefangen habe. Aber bei einem Fall wie diesem braucht man entweder Nikotin oder starken Whiskey, und mit Whiskey wäre der Fall die längste Zeit meiner gewesen.«
»Was denken Sie - von den Postkarten, meine ich.«
»Ich denke, da fühlt sich jemand so schlau, daß er oder sie uns auslacht. Ich denke, da ist ein Fuchs, der eine falsche Fährte legt.«
Harry bekam eine Gänsehaut. »Das macht mir angst.«
»Mir auch. Wenn ich nur wüßte, wohinter der Mistkerl her war.«
»Gehen Sie einem bestimmten Verdacht nach?«
»Ja, aber vorher mach ich meine Hausaufgaben.« Rick schlug das rechte Bein über das linke Knie. »Okay, und was ist Ihr Verdacht? Sie brennen darauf, es mir zu erzählen.«
»Die alten Tunnels, die Claudius Crozet gegraben hat, haben was damit zu tun.«
Beim Klang des Namens Crozet setzte Rick sich gerade auf. »Warum sagen Sie das?«
»Weil ein Brief von Crozet, eine Fotokopie, auf Kellys Schreibtisch lag. Können Sie reiten, Rick?«
»Ein bißchen.«
»Lassen Sie uns zum nächsten Tunnel reiten, dem Greenwood-Tunnel.«
»In dieser Hitze, bei all den Stechmücken? Nein, Ma'am. Wir fahren mit meinem Dienstwagen, und das letzte Stück können wir zu Fuß gehen.« Er klopfte ihr auf den Rücken. »Ich weiß nicht, warum ich das mache, aber kommen Sie.«
»Ihr zwei bleibt hier und seid brav.«
»Nein! Nein!« ertönte ein Chor des Mißfallens.
Harry fing schon an, auf Rick einzureden, aber er schnitt ihr das Wort ab. »Kommt nicht in Frage, Harry. Die bleiben hier.«
Die Vegetation eines Dschungels hätte nicht viel dichter sein können als die, durch die Rick und Harry sich kämpften.
»Wir hätten Pferde nehmen sollen«, brummte Harry.
»Ich hab keine zwei Stunden Zeit. So geht's schneller. Außerdem können Sie froh sein, daß ich Sie überhaupt mitnehme.«
»Mich mitnehmen? Sie würden gar nichts davon wissen, wenn ich es Ihnen nicht erzählt hätte. He, haben Sie Bob Berryman gefunden?«
Rick schlug auf ein Gestrüpp von Kermesbeeren ein. »Ja. War das so auffällig nach der Beerdigung?«
»Wohin hätten Sie sich sonst so schnell verdrückt?«
»Ich hab ihn bei der Arbeit gefunden. Er verkaufte den Beegles gerade einen bronzefarbenen Viehtransporter.«
»Hatten Sie Krach mit ihm?«
»Nein, er war müde. Schätze, die Aufregung hat ihn erschöpft. Er hat ein Alibi für die Nacht, in der Maude ermordet wurde. Er war zu Hause bei seiner Frau.«
»Sie könnte für ihn lügen.«
»Nehmen Sie in Ihren kühnsten Träumen ernsthaft an, Mary Minor Haristeen, daß Linda für Bob lügen würde?«
»Nein.« Harry blieb stehen, um Atem zu holen. Die dampfige Hitze sog den Sauerstoff förmlich wieder aus ihr heraus.
Weiter vorne ragte der Umriß des Tunnels auf, der, bedeckt mit Kudzu, Geißblatt und einer Fülle von Unkräutern, die nicht einmal Harry kannte, einen phantastischen Anblick bot. Das alte Bahngleis, das von der neueren Strecke abzweigte, führte zum Tunneleingang.
»Ich habe auf zertretenes Gras und auf Spuren geachtet« - Rick wischte sich den Schweiß von der Stirn - »aber bei diesem dicken Gestrüpp habe ich wenig Hoffnung, es sei denn, die Spuren wären ganz frisch. Es ist leichter, an den Schienen entlangzugehen, aber das dauert doppelt so lange.«
Als sie den Tunnel erreichten, richtete Harry den Blick nach oben. Die eingemeißelte Erinnerungstafel für die Männer, die den Tunnel gebaut hatten, war halb von Geißblattüberwachsen. C. CROZET, CHEFINGENIEUR, war sichtbar. Der Rest war verdeckt, bis auf A.D. 1852.
Harry zeigte nach oben.
Kudzu wächst täglich ungefähr einen Meter und überwuchert alles, was ihm in den Weg kommt.
»Ein Schatz?« meinte Harry.
»Die C&O hat den Tunnel von oben bis unten abgesucht, bevor sie ihn schloß. Und sehen Sie sich den Felsen an. Da kommt keiner durch, um auf Schatzsuche zu gehen.«
Die Tunnelöffnung war mit Schutt und Steinen gefüllt und dann mit Beton versiegelt worden. Die rechte Seite der Öffnung war vollkommen von Kletterpflanzen überwuchert.
Enttäuscht berührte Harry den Felsen, der warm von der Sonne war. Sie zog die Hand zurück.
»Es gibt noch drei Tunnels.«