»Ich glaube, unter den Umständen ist das ganz natürlich.«
»Ich weiß nicht. Manchmal hab ich das Gefühl, ich werde verrückt.«
»Das gibt sich. Sei nicht so hart zu dir selbst.«
Er lächelte ein verkniffenes Lächeln, murmelte etwas und ging.
Erschöpft von der Begegnung, setzte Harry sich mit einem Plumps hin. Tucker lief zu ihr.
»So, so, es waren also Liebesbriefe.« Mrs. Murphy dachte laut.
»Vermutlich, aber wir wissen es nicht«, erwiderte Tucker. »Und selbst wenn - er hätte sie in einem Streit umbringen können. Menschen tun so was. Ich habe im Fernsehen gehört, daß jeden Tag vierhundertfünfunddreißig Amerikaner umgebracht werden. Ich glaube, so hat es der Nachrichtensprecher gesagt. Die töten für alles.«
»Ich weiß, aber ich glaube nicht, daß er sie getötet hat. Ich glaube, er hat Harry die Wahrheit gesagt.«
»Was miaust du, Miezekatze? Jetzt bin ich dir auf die Schliche gekommen. Du hast immer die Türen aufgemacht, stimmt's? Du kleiner Schlaumeier.« Harry streichelte Tuckers Ohren, während sich Mrs. Murphy an ihren Beinen rieb. Die Lebenskraft strömte langsam in ihre Gliedmaßen zurück, die sich, als Bob ins Postamt gekommen war, vor lauter Angst so schwer angefühlt hatten. Sie hoffte, der Rest des Tages würde besser verlaufen. Doch leider wurde Harrys Tag eher schlimmer.
Mrs. Hogendobber fuhr in ihrem Falcon vor. Sie spannte einen Regenschirm auf. Mrs. H. sah keinen Grund, sich ein praktischeres Auto zuzulegen, und ihrer Meinung nach wurden für einen Autokauf auf Raten ohnehin Wucherzinsen erhoben. Dennoch fuhr sie einmal im Monat zu Art Bushey, dem Fordhändler, um ihm die Möglichkeit zu geben, ihr einen neuen Wagen zu verkaufen. Art wußte genau, daß sie nicht die geringsten Kaufabsichten hegte. Sie schmachtete ihn an, und galant wie er war, führte er sie jedesmal, wenn sie auf seinen Parkplatz einbog, zum Mittagessen aus.
»Harry! Ich habe einen Fehler gemacht, einen winzig kleinen Fehler, aber ich dachte, Sie sollten es wissen. Ich hätte es Ihnen schon früher sagen sollen, aber ich habe nicht daran gedacht. Ich hab's einfach vergessen. Als Sie von der Party, oder wie Sie das bei Josiah nennen wollen, weggegangen sind, bin ich noch dageblieben. Mim und ich sprachen über den Zustand der Moral heutzutage. Dann erwähnte Mim, daß Sie Little Marilyn ermutigt hätten, sich mit Stafford in New York in Verbindung zu setzen. Ich sprach von Vergebung, und sie sagte mir hochmütig, sie brauche keine Predigt, dafür würde sie in die St. Paulskirche gehen, und ich sagte, Vergebung erstrecke sich auch auf die übrigen sechs Wochentage.«
»Es tut mir leid, daß sie so unhöflich zu Ihnen war.« Harry lehnte sich an den Schalter.
»Nein, nein, darum geht es nicht. Sehen Sie, dann sprach Josiah davon, daß die Regierung, die Bundesregierung, denjenigen, die sich um Steuern zu drücken versuchten, nie richtig verziehen habe, und Ned, der kam, als Sie schon gegangen waren - er wirkte sehr abgespannt, muß ich sagen -, also, Ned lachte und sagte, das Finanzamt verzeihe niemandem. Die Macht, Steuern zu erheben, sei die Macht zu zerstören, und ich sagte, es sei vielleicht gut, daß Maude tot ist, weil sie sie früher oder später erwischt hätten.«
»O nein!« rief Harry aus.
»Das Gespräch ging dann zu anderen Themen über, und es ist mir erst jetzt wieder eingefallen.«
»Wieso jetzt?« »Das weiß ich nicht genau. Der Regen hat mich an das viele Wasser in Mims Boot erinnert. Was, wenn - wenn der Mörder es gar nicht auf Mim abgesehen hatte? Mim kann schließlich schwimmen.«
»Ich verstehe.« Harry rieb sich die Schläfen. Das war schlimmer als Kopfschmerzen. Die Geschichte, wie Mim mit ihrem Ponton baden gegangen war, war in der ganzen Stadt bekannt, weil die Arbeiter, von denen Jim das Boot auf seinen Laster laden ließ, den Schaden gesehen hatten. Mittlerweile zog jedermann aus allem voreilige Schlüsse, und überall in der Stadt wurde getratscht, daß Mim das ausersehene Opfer gewesen war.
Mrs. Hogendobber atmete tief durch. »Was mach ich jetzt?«
»Wenn irgendwer auf Ihren Schnitzer zu sprechen kommt - Sie wissen schon, wenn jemand eine Suggestivfrage über Maude oder das Finanzamt stellt -, rufen Sie mich sofort an. Oder besser, rufen Sie Rick Shaw an.«
»Ach du liebe Güte.«
»Mrs. H. Sie müssen mir vertrauen. Der Mörder gibt ein Signal, bevor er zuschlägt - ich kann Ihnen nicht sagen, was für eines. Er gibt ein Warnzeichen, und deswegen frage ich mich, ob der aufgeschlitzte Ponton wirklich Ihnen galt.«
»Glauben Sie, er will mich umbringen? Wollen Sie das damit sagen?« Ihre Stimme war ganz ruhig.
»Das will ich nicht hoffen.«
»Wenn ich es Rick Shaw erzähle, wird er wissen, was wir getan haben.«
»Ich finde, wir sollten es ihm lieber sagen. Was wird er tun? Uns verhaften? Hören Sie, Sie müssen sich genau erinnern, wer dort war, nachdem ich gegangen bin.«
»Ich, Mim, Little Marilyn, Jim, der alte Dr. Johnson und Ned. Dabei fällt mir ein, was ist mit Ned und Susan los? Oh, Susan war natürlich auch da.«
»Besinnen Sie sich nur auf die Namen, dann erzähle ich Ihnen von Ned.«
Das gab ihr Auftrieb. »Hmm, Fair und Josiah - na ja, das ist ja klar.«
»Gar nichts ist klar. Sind Sie sicher, daß sonst niemand da war? Wie steht's mit Market? Oder mit den Kindern?« »Nein. Market war nicht da und Courtney auch nicht.«
»Das sieht nicht gut aus.«
Mrs. Hogendobber stützte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Sie wischte sich die Stirn. »Ich bin es nicht gewöhnt, den Menschen nicht zu trauen. Ich fühle mich schrecklich.«
Harrys Stimme wurde sanft. »Niemand von uns ist daran gewöhnt. Man kann nicht von uns erwarten, daß wir unser Verhalten über Nacht ändern - und vielleicht ist es auch besser, wenn wir das nicht tun. Aber solange wir den Mörder nicht gefaßt haben, müssen wir auf der Hut sein. Wollen Sie nicht lieber Larrys Frau heute nacht bei sich schlafen lassen, oder, besser noch, zu ihnen gehen?«
»Meinen Sie, daß das nötig ist?«
»Eigentlich nicht«, log Harry. »Aber warum ein Risiko eingehen?«
»Sie glauben, daß Maude und Kelly Rauschgift verschoben haben, nicht? Sie müssen zusammen Geschäfte gemacht haben. Aber wer ist der Drahtzieher?«
»Irgendein netter Mensch in Crozet, mit dem wir Tennis spielen oder zur Kirche gehen. Eine Person, die wir seit Jahren kennen.«
»Warum?« Mrs. Hogendobber mochte wohl Predigten über das Böse halten, aber wenn sie wirklich mit ihm konfrontiert wurde, wußte sie nicht mehr ein noch aus. Sie stellte sich den Teufel mit grünen Hörnern oder als Menschen mit zähnefletschender Fratze vor. Es war ihr nicht ein einziges Mal in ihrem langen und relativ glücklichen Leben in den Sinn gekommen, daß das Böse normal sein könnte.
Als Antwort auf Mrs. Hogendobbers Frage zuckte Harry die Achseln. »Liebe oder Geld.«
Als Mrs. Hogendobber weggefahren war, kehrte Harry mit neuer Kraft an die Arbeit zurück. Wenn sie sich, was Mrs. Hogendobber betraf, auch ratlos fühlte, so konnte sie sich wenigstens nützlich machen, indem sie das Postamt putzte. Wenigstens eine Sache in ihrem Leben konnte sie in den Griff kriegen.
Dann trat Fair ins Postamt.
»Ich habe mich bemüht, ein guter Ehemann zu sein - das weißt du, oder?« Fair räusperte sich.
»Ja.« Harry hielt den Atem an.
»Wir haben nie darüber gesprochen, was wir wirklich voneinander erwarteten. Vielleicht hätten wir darüber reden sollen.«
»Was ist los? Komm, sag schon, laß es raus, um Himmels willen.« Harry war drauf und dran, die Hand nach ihm auszustrecken. Sie nahm sich zusammen.
Fair stammelte: »Nichts ist los. Wir haben Fehler gemacht. Das wollte ich bloß sagen.«