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»Schade, daß Du nicht hier bist.« Harrys Hände zitterten, als sie die an Mrs. George Hogendobber adressierte Postkarte las. Die Vorderseite der Karte war eine schöne Hochglanzfotografie von Puschkins Grab. Wieder nahm ein sorgfältig gefälschter Poststempel die obere rechte Ecke der Rückseite ein.
Harry rief Rick Shaw an, aber er war nicht im Büro. »Dann holen Sie ihn!« schrie sie die Telefonistin an. Anschließend drückte sie auf den Knopf und wählte Mrs. Hogendobbers Nummer.
»Hallo.«
Harry hätte nie gedacht, daß sie einmal so froh sein würde, diese energische Stimme zu hören. »Mrs. Hogendobber, geht es Ihnen gut?«
»Sie rufen mich am frühen Morgen an, um zu hören, ob es mir gutgeht? Ich bin in einer Viertelstunde sowieso bei Ihnen.«
»Ich hole Sie ab.« Harry rang nach Luft und atmete tief durch.
»Wie bitte? Mary Minor Haristeen, ich bin schon zum Postamt gegangen, als Sie noch nicht auf der Welt waren.«
»Bitte tun Sie, was ich sage, Mrs. H. Gehen Sie auf die vordere Veranda, so daß alle Sie sehen können. Ich bin in einer Minute da. Tun Sie's, bitte.« Sie legte den Hörer auf und stürmte aus der Tür, dicht gefolgt von Tucker und Mrs. Murphy.
Mrs. Hogendobber schwang auf ihrer Hollywood-Schaukel, eine perplexe Mrs. Hogendobber, eine verärgerte Mrs. Hogendobber, aber eine lebendige Mrs. Hogendobber.
Harry brach bei ihrem Anblick in Tränen aus. »Gott sei Dank!«
»Um Himmels willen, was ist mit Ihnen, Mädchen? Sie brauchen ein Alka-Seltzer.«
»Sie müssen hier weg. Raus aus Crozet. Wie war's mit Ihrer Schwester in Greenville, North Carolina?«
»Da ist es genauso heiß wie hier.«
»Wie war's mit Ihrem Neffen in Atlanta?«
»Atlanta ist noch schlimmer als Greenville. Ich gehe nirgendshin. Leiden Sie unter einem Hitzschlag? Vielleicht sind Sie überarbeitet. Wollen wir nicht hineingehen und zusammen beten? Dann werden Sie bald die Hand des Herrn auf Ihrer Schulter spüren.«
»Das hoffe ich inständig, aber Sie kommen mit mir ins Postamt und gehen nicht wieder weg, bis Rick Shaw eintrifft.«
Tucker leckte Mrs. Hogendobbers Fesseln. Mrs. Hogendobber verscheuchte sie, aber Tucker kam wieder. Schließlich ließ Mrs. Hogendobber sie lecken. Sie war an diesem stickigheißen Morgen ohnehin verschwitzt. Was machten da schon nasse Fesseln?
»Würden Sie mir sagen, was hier vorgeht?«
»Ja. Jedes Mordopfer hat eine Postkarte ohne Unterschrift erhalten. In einer Computerschrift. Sieht aus wie eine richtige Handschrift, ist aber keine. Vorn auf jeder Postkarte war eine Fotografie von einem berühmten Friedhof. Der Text lautete: >Schade, daß du nicht hier bist. < Sie haben heute morgen eine bekommen.«
Mrs. Hogendobbers Hand flatterte an ihren gewaltigen Busen. »Ich?«
Harry nickte. »Sie.«
»Was habe ich getan? Ich habe noch nie einen Joint zu Gesicht bekommen, geschweige denn Stoff verkauft.«
»Oh, Mrs. H. ich weiß nicht, ob es irgendwas mit Rauschgift zu tun hat, aber der Mörder hat erfahren, daß Sie den zweiten Satz Bücher gesehen haben. Auf dem Treffen bei Josiah.«
Mrs. Hogendobbers Augen wurden schmal. Es mochte ihr an Sinn für Humor mangeln, aber es mangelte ihr nicht an einer raschen Auffassungsgabe. »Ach, dann hat Maude nicht nur das Finanzamt betrogen. Der Ordner ist auch ein Konto ihres Umsatzes mit ihrem Partner, wer immer das war.« Sie hielt sich auf beiden Seiten an der Hollywood-Schaukel fest. »Jemand auf Josiahs Party. Das ist absurd!«
»Ja - aber es ist wahr. Sie sind in Gefahr.«
Überaus gefaßt stand Mrs. Hogendobber auf und begleitete Harry ins Postamt. Sie erholte sich genügend, um sagen zu können: »Ich habe immer gewußt, daß Sie die Postkarten lesen, Harry.«
Als Rick Shaw mit Officer Cooper kam, scheuchte er alle ins Hinterzimmer.
»Harry, benehmen Sie sich normal. Wenn Sie Leute kommen hören, gehen Sie nach vorn und sprechen mit ihnen.« Er betrachtete die Postkarte.
»Wie sieht's mit Fingerabdrücken aus?« fragte Officer Cooper.
»Ich schicke die Karten ins Labor. Aber der Mörder ist gewieft. Keine Fingerabdrücke. Keine auf den Postkarten, keine auf den Leichen, nichts. Dieses Manns- oder Weibsbild muß unsichtbar sein. Wir lassen von den Computerfirmen in der Stadt überprüfen, ob sich an der Schrift etwas erkennen läßt. Leider sind Computer nicht wie Schreibmaschinen, die sich aufspüren lassen. Ein maschinengeschriebener Brief ist fast wie ein Fingerabdruck. Elektronisch Gedrucktes ist, hm, homogenisiert. Wir geben uns Mühe, aber in diesem Punkt haben wir nicht viel Hoffnung.«
Officer Cooper beobachtete Mrs. Murphy, die versuchte, sich in eine Kleenexschachtel auf dem Bord zu zwängen.
»Er oder sie hält uns zum Narren. Der Mörder schickt eine Warnung, auch wenn die Opfer nicht merken, daß es eine Warnung ist«, sagte Harry.
»Ich hasse die Typen, die mit solchen ausgefeilten Feinheiten daherkommen.« Rick zog ein Gesicht. »Ein ordentlicher Mord im Familienkreis ist mir allemal lieber.« Er schwenkte seinen Stuhl herum, so daß er Mrs. Hogendobber gegenübersaß. »Sie werden hier schleunigst verschwinden, Madam.«
»Ich bin bereit hinzunehmen, was Gott für mich bereithält.« Sie streckte das Kinn vor. »Ich war bereit, in Mims See zu ertrinken. Das hier ist auch nichts anderes.«
»Die Wege des Herrn sind unergründlich, aber meine nicht«, entgegnete Rick. »Sie können Verwandte besuchen, und wir sorgen dafür, daß Sie heil und gesund ankommen. Wir werden die Behörden vor Ort verständigen, damit sie Ihr Wohlergehen im Auge behalten, und wir werden keinen Menschen über Ihren Verbleib unterrichten. Wenn Sie die Stadt nicht verlassen, stecken wir Sie ins Gefängnis. Wir werden Sie gut behandeln, aber, meine liebe Mrs. Hogendobber, Sie werden nicht das dritte Opfer dieses kalten, berechnenden Mörders werden. Haben Sie mich verstanden?«
»Ja.« Mrs. Hogendobbers Antwort klang nicht kleinlaut.
»Schön. Sie gehen mit Officer Cooper nach Hause und packen. Sie können entscheiden, was Sie tun werden, und Sie sagen es niemandem außer mir.«
»Nicht mal Harry?«
»Nicht mal Harry.«
Mrs. Hogendobber nahm Harrys Hand und drückte sie. »Machen Sie sich um mich keine Sorgen. Ich schließe Sie in meine Gebete ein.«
»Danke.« Harry war gerührt. »Und ich Sie in meine.«
Als Mrs. Hogendobber und Officer Cooper durch die Hintertür hinausgegangen waren, zerknüllte Harry einen Postsack.
»Er wird wissen, daß ich es weiß und daß Sie es wissen«, sagte der Sheriff. »Er wird nicht wissen, ob es sonst noch jemand weiß. Weiß es sonst noch jemand?«
»Susan Tucker.«
Ricks Augenbrauen zogen sich zusammen. »Verflixt und zugenäht, Harry, können Sie denn nie den Mund halten?«
»Sie ist meine beste Freundin. Und falls mir was zustößt, möchte ich, daß irgend jemand wenigstens so viel weiß wie ich.«
»Woher wissen Sie, daß Susan nicht die Mörderin ist?«
»Nie. Nie. Niemals. Sie ist meine beste Freundin.«
»Ihre beste Freundin. Harry, Frauen, die seit dreißig Jahren verheiratet sind, entdecken, daß ihr Mann in einer anderen Stadt eine zweite Frau hat. Oder Kinder wachsen auf und entdecken, daß ihr geliebter Daddy ein Nazikriegsverbrecher war, der in die Vereinigten Staaten entkam. Die Leute sind nicht, was sie scheinen, und dieser Mörder scheint normal, angepaßt, und - ja, einer von uns zu sein. Er oder sie ist von hier. Susan steht genauso unter Verdacht wie alle anderen. Und was ist mit Fair? Er kennt sich in der Medizin aus. Ärzte sind findige Mörder.«
»Susan und Fair würden es einfach nicht tun, das ist alles.«
Rick atmete durch die Nase aus. »Ich bewundere Ihr Vertrauen zu Ihren Freunden. Falls es nicht berechtigt ist, haben Sie eine gute Chance, bald vor Ihren Schöpfer zu treten.« Er nahm einen Stift und klopfte sich damit an die Wange. »Glauben Sie, Susan hat es Ned erzählt?«