»Himmel, was ist denn das?« Er ging zu Harry und reichte ihr die Postkarte.
»Ein hübsches Bild von Jeffersons Gedenktafel.«
»Schade, daß Du nicht hier bist<«, las Fair laut vor. »Tom meint vielleicht, ich sollte ihm Gesellschaft leisten. Das tun ja inzwischen einige andere auch; ich glaube, ich hab einen schönen Schlamassel angerichtet.« Er schob die Karte über den Schalter. »Wenn T.J. heute nach Albemarle County zurückkehrte, würde er sterben vor Sehnsucht, von hier wegzukommen.«
»Warum sagen Sie das?« fragte Officer Cooper.
»Die Leute kleben so am Althergebrachten. Ich meine, der Mann verkörperte fortschrittliches Denken, in der Politik, in der Architektur. Seit seinem Tod haben wir keine Fortschritte mehr gemacht.«
»Du hörst dich an wie Maude Bly Modena«, bemerkte Harry.
»So? Kann schon sein.«
»Ich nehme an, du wirst dich jetzt öffentlich mit Boom Boom zeigen.«
Fair funkelte Harry böse an. »Das war ein Schlag unter die Gürtellinie.« Er stürmte hinaus.
»Herrje, es ist nicht mal zehn Uhr morgens. Ich bin gespannt, wen wir sonst noch beleidigen können.« Officer Cooper lachte.
»Das macht die Anspannung, und dann die vielen Reporter, die einem auf die Nerven gehen. Und. ich weiß nicht. Die Luft fühlt sich schwer an, wie vor einem Sturm.«
Reverend Jones, Clai Cordle, Diana Farrell und Donna Eicher holten ihre Post ab. Daraus ergab sich nichts. Donna nahm auch die Post für Linda Berryman mit.
Als sich das Postamt wieder geleert hatte, bemerkte Harry: »Es war ziemlich geschmacklos von uns, eine Karte in Linda Berrymans Fach zu stecken.«
»In diesem Fall rechtfertigt das Gemeinwohl so ziemlich jede Gemeinheit.«
Hayden McIntire schaute vorbei. Auch er ging hinaus, ohne sich seine Post anzusehen.
Boom Boom Craycroft aber erfaßte die Bedeutung der Karte sofort, als sie ihre Post in drei Stapel teilte: Privates, Geschäftliches, Postwurfsendungen. »Wie hübsch.«
Sie reichte Harry die Postkarte. »Würdest du mir das jetzt wünschen?«
»Ich hab auch eine gekriegt«, flunkerte Harry.
»Krankhafter Humor.« Boom Boom schürzte verächtlich die Lippen. »Diese Morde stellen jeden Verrückten in den Schatten, den wir hier je hatten. Manchmal denke ich, ganz Crozet ist verrückt. Wieso eitern wir hier wie ein Pickel am Arsch der Blue Ridge Mountains? Der arme Claudius Crozet. Er hätte was Besseres verdient.« Sie machte eine Pause, dann sagte sie zu Harry: »Hm, ich schätze, du hast auch was Besseres verdient, aber ich bringe es nicht fertig, mich zu entschuldigen. Ich fühle mich nicht schuldig.«
Als sie hinausging, bemerkte die verblüffte Harry, daß Mrs. Murphy auf die Stempelkissen zusteuerte. Schnell spurtete sie an ihr vorbei und klappte die Schachteln zu. Mrs. Murphy zockelte daran vorüber, als gingen sie sie nichts an. Dieser Aufruhr wegen Boom Boom und Fair hatte auch die Katze in Aufregung versetzt. Sie war unglücklich darüber, Harry leiden zu sehen.
Der Name Crozet hatte einen Nerv in Harrys Hirn in Tätigkeit gesetzt. »Cooper, wenn ich den vergrabenen Schatz fände, müßte ich dafür Einkommensteuer zahlen?«
»Wir zahlen in diesem Land sogar Erbschaftssteuer. Natürlich müßten Sie zahlen.«
»Vielleicht kommt sie jetzt endlich drauf.« Mrs. Murphy stolzierte auf und ab.
»Wo drauf?« Pewter konnte es nicht ausstehen, weniger zu wissen als die anderen, deshalb weihte Tucker sie ein.
»Die Gewinne in Maudes Hauptbuch. Vielleicht hängen sie mit dem stückweisen Verkauf des Schatzes zusammen.«
»Sind Sie von Sinnen?« Cooper lächelte. »Aber die Erklärung ist so gut wie jede andere. Sie läßt nur die winzige, unbedeutende Kleinigkeit außer acht, daß die Tunnels versiegelt sind. Steine, Schutt, Beton. Armer Claudius.
Ich würde mir um ihn mehr Sorgen machen, wenn er zurückkehrte, als um Thomas Jefferson. Stellen Sie sich vor, Sie kommen zurück und sehen Ihr Lebenswerk, ein Meisterwerk der Ingenieurskunst, versiegelt und vergessen.«
»Lassen Sie uns nach der Arbeit hingehen.«
»Gut. Machen wir.«
In diesem Augenblick betraten Mim, Little Marilyn und ihre ständige Begleiterin das Gebäude. Josiah folgte ihnen, wie ein gutgepflegter Terrier, auf dem Fuße.
Mutter und Tochter, zwischen denen offensichtlich dicke Luft herrschte, verbreiteten ihre gedrückte Stimmung im ganzen Raum. Josiah sortierte unauffällig seine Post am Schalter, während die Frauen in leisem Ton miteinander sprachen.
Der leise Ton explodierte jäh, als Mim Little Marilyn die Post aus der Hand riß. »Die nehme ich.«
»Ich kann die Post genausogut sortieren wie du.«
»Du bist zu langsam.« Mim blätterte hektisch die Post durch. Die Postkarte drang kaum in ihr Bewußtsein. Sie hielt nach etwas anderem Ausschau.
»Mutter, gib mir meine Post!«
Josiah las seine Postkarte. Dolley Madisons Grabmal. Er lächelte Harry an. »Ist das ein Scherz von dir?«
»Ich geb dir gleich deine Post.« Die Sehnen an Mims Hals traten hervor.
Little Marilyn, das Gesicht purpurrot, schlug ihrer Mutter mit dem Handrücken auf die Hände, und die Post flog durch die Gegend. Mrs. Murphy sprang auf den Schalter, um zuzusehen, Pewter desgleichen. Tucker bettelte hinter dem Schalter, nach vorne gelassen zu werden, und Harry öffnete ihr die Tür. Sie setzte sich neben die Frankiermaschine und sah zu.
»Ich weiß, wonach du suchst, Mutter, und du wirst es nicht finden.«
Mim heuchelte Selbstbeherrschung und bückte sich, um die Antworten auf die Hochzeitseinladungen aufzuheben. Josiah ließ seine Post auf dem Schalter liegen und trat zu ihr. »Möchtest du nicht ein wenig frische Luft schnappen, Mim? Ich heb das auf.«
»Ich brauche keine frische Luft. Ich brauche eine neue Tochter.«
»Schön. Dann hättest dugar kein Kind mehr«, schrie Little Marilyn sie an. »Du suchst nach einem Brief von Stafford. Du wirst keinen finden, Mutter, weil ich ihm nicht geschrieben habe.« Little Marilyn machte eine Pause, um Atem zu holen und um der dramatischen Wirkung willen. »Ich habe ihn angerufen.«
»Was hast du?« Mim sprang so schnell auf, daß ihr das Blut aus dem Kopf wich.
»Mim, Liebling.« Josiah suchte sie zu beruhigen. Sie stieß ihn weg.
»Du hast richtig gehört. Ich habe ihn angerufen. Er ist mein Bruder, und ich liebe ihn, und wenn er nicht zu meiner Hochzeit kommt, dann kommst du auch nicht. Ich bin diejenige, die heiratet, nicht du.«
»Wag es ja nicht, so mit mir zu sprechen.«
»Ich spreche mit dir, wie's mir paßt. Ich habe immer alles getan, was du von mir verlangt hast. Ich habe die richtigen Schulen besucht. Ich habe die geeigneten femininen Sportarten getrieben, du weißt schon, Mutter, die, bei denen man nicht schwitzt. Entschuldige - glüht. Ich habe die richtigen Freundinnen gehabt. Ich kann sie nicht ausstehen! Sie sind langweilig. Aber sie sind comme il faut. Ich heirate den richtigen Mann. Wir werden zwei blonde Kinder haben, und sie werden die richtigen Schulen besuchen, den richtigen Sport betreiben bis zum Überdruß. Ich steige runter von dem Karussell. Jetzt. Wenn du draufbleiben willst, schön. Du wirst nicht merken, daß du dich im Kreis drehst, bis du tot bist.« Little Marilyn zitterte vor Wut, die allmählich in Erleichterung und sogar in Glück überging. Sie tat es, endlich. Sie wehrte sich.
Harry, die kaum zu atmen wagte, hätte am liebsten applaudiert. Officer Cooper sprangen fast die Augen aus dem Kopf. So also benahm man sich in der oberen Mittelklasse? Die öffentliche Bloßstellung würde Mim am Ende mehr zusetzen als die bloßgestellten Gefühle.
»Liebling, laß uns das woanders besprechen, bitte.« Josiah nahm sachte Mims Arm. Diesmal ließ sie sich von ihm führen.
»Little Marilyn, wir reden später darüber.«
»Nein. Es gibt nichts zu reden. Ich heirate Fitz-Gilbert Hamilton. Er ist nicht gerade aufregend, aber er ist ein guter Mensch, und ich hoffe von ganzem Herzen, daß wir unsere Sache miteinander gut machen, Mutter! Ich möchte glücklich sein, und sei es nur für einen Tag in meinem Leben. Du bist zu meiner Hochzeit eingeladen. Die Frau meines Bruders wird meine Brautführerin sein.«