Robert Silverberg
Schadrach im Feuerofen
1
In Ulan Bator, der Hauptstadt der geeinten Welt, ist es kurz vor Sonnenaufgang. Dr. Schadrach Mordechai liegt schon seit einiger Zeit in seiner Hängematte wach, unruhig und angespannt. Die rot leuchtenden Buchstaben im grünen Kalenderfeld an der Wand verkünden den neuen Tag:
Wie gewöhnlich ist es ihm unmöglich gewesen, mehr als ein paar Stunden Schlaf zu finden. Das ganze Jahr schon ist er von Schlaflosigkeit geplagt; sie muß irgendeine Botschaft seiner Großhirnrinde sein, doch ist es ihm bisher nicht gelungen, sie zu entziffern. Wenigstens hat er heute eine Entschuldigung für das Frühaufstehen, denn ernste Herausforderungen erwarten ihn. Dr. Mordechai ist Leibarzt Dschingis Khans II. Mao, des Vorsitzenden der Vorsitzenden — mit anderen Worten, des Herrn über die Erde —, und an diesem Tag soll der alte Mann sich einer Leberverpflanzung unterziehen, der dritten in sieben Jahren.
Der erleuchtete Führer der Menschheit schläft weniger als zwanzig Meter entfernt in einer Suite, die an Mordechais Räume grenzt. Beide wohnen im Regierungspalast. Dieser glanzvolle Bau erinnert ein wenig an chinesische Pagoden und an die Lamaklöster Zentralasiens, übertrifft sie jedoch bei weitem an Größe, Höhe und Aufwand: die marmorverkleideten Wände, verziert mit kunstvollen Einlegearbeiten aus schwarzem Onyx und gegliedert von Gesimsen und gestuften Giebeln, erhebt sich wie eine prächtige Fata Morgana aus dem staubigen, gelbbraunen mongolischen Tafelland. Der Vorsitzende schläft ruhig und beneidenswert entspannt. Die Augen unter den schweren Lidern sind still, die Atmung geht langsam und gleichmäßig, Puls und Hormonspiegel sind normal. Schadrach Mordechai weiß das, weil er chirurgisch an verschiedenen Stellen seiner Arme, der Beine und des Rumpfes eingepflanzte Miniaturempfänger mit sich trägt, die zur Übertragung von Wahrnehmungen dienen und ihn ständig mit telemetrischer Information über das Befinden des Vorsitzenden versorgen. Es hatte Schadrach ein volles Jahr anstrengenden Trainings gekostet, um die Signale richtig zu deuten: das leise Zittern, die winzigen Zuckungen, Juckreize und Stiche, welche die wichtigsten Körperfunktionen des Vorsitzenden wiedergeben; doch ist es ihm mittlerweile zur zweiten Natur geworden, diese eingehenden Daten wahrzunehmen und zu verstehen. Ein Kitzeln hier bedeutet Verdauungsstörungen, ein Pochen dort deutet auf Funktionsstörungen der Gallenblase hin, ein Stechen anderswo zeigt ein Ansteigen des Zuckerspiegels an. Für Schadrach ist es, als lebe er in zwei Körpern zugleich, aber er hat sich daran gewöhnt. Seine Wachsamkeit beschützt das kostbare Leben des großen Führers. Offiziell wird das Alter des Vorsitzenden mit siebenundachtzig Jahren angegeben, wahrscheinlich aber ist er noch älter. Dennoch ist sein Körper, ein Flickwerk aus künstlichen und verpflanzten Organen, so kräftig und reaktionsschnell wie der eines Fünfzigjährigen. Es ist der Wunsch des Vorsitzenden, den Tod aufzuschieben, bis er seine Ziele erreicht und sein Werk vollendet hat; mit anderen Worten, er wünscht sich Unsterblichkeit.
Wie ruhig er schläft! Schadrach überprüft mechanisch die ständig eingehenden Signale: Atmung, Verdauung, Sekretion, Kreislauf — alle autonomen Systeme arbeiten einwandfrei. In seinem traumlosen Schlaf liegt der Vorsitzende wie gewohnt auf der linken Seite (schwacher Druck auf die Aorta), läßt ein sanftes Schnarchen hören (Widerhall im Brustkorb) und scheint angesichts des bevorstehenden Eingriffs keinerlei nervöse Spannung zu verspüren. Schadrach beneidet ihn um seine Ruhe. Freilich sind Organverpflanzungen für den alten Mann nichts Neues.
Der Arzt verläßt seine Hängematte, reckt sich, tappt über den kühlen Fliesenboden des Schlafraums zum Balkon und tritt hinaus. Die im Osten von den orangeroten und graublauen Tönen des frühen Morgens gesättigte Luft ist rein und kalt. Ein frischer Südostwind bläst über die Ebenen, um sich irgendwo zwischen den Gebirgszügen südlich des Baikalsees zu verlieren. Er knattert in den schwarzroten Fahnen über dem Sukhe Bator-Platz, dem Paradeplatz der Hauptstadt, und fährt unbarmherzig in die rosablühenden Zweige der Tamarisken. Schadrach atmet tief ein und läßt den Blick zum fernen Horizont hinausgehen, als halte er Ausschau nach bedeutungsvollen Rauchsignalen aus China. Keine Signale kommen; nur die leisen Impulse der eingepflanzten Empfänger, die das Lied von der guten Gesundheit des Vorsitzenden singen.
Alles ist still. Die ganze Stadt schläft, ausgenommen jene, die um diese Stunde arbeiten müssen; die Mongolen scheinen nicht unter Schlaflosigkeit zu leiden. Schadrach aber ist kein Mongole. Er ist ein Schwarzer, dunkelhäutig wie ein Nilote, obwohl er kein gebürtiger Afrikaner ist; schlank und langbeinig, mit dichtem Kraushaar, weit auseinanderstehenden Augen, mäßig ausgeprägten Wulstlippen und breiter, doch geradrückiger Nase, ist er unter den mongolischen und chinesischen Bewohnern dieses Landes eine auffallende Erscheinung, vielleicht auffallender, als er gern sein würde.
Er macht eine Anzahl Kniebeugen, wie er es jeden Morgen auf dem schmalen Balkon zu tun pflegt: er ist sechsunddreißig Jahre alt, und obwohl ihm seine Sonderstellung im Regierungsdienst Zugang zur Ronkevic-Immunisierung garantiert und er frei von der immerwährenden Furcht vor der Organzersetzung leben kann, die die meisten der zwei Milliarden Einwohner der Erde verfolgt, ist sechsunddreißig nichtsdestoweniger ein Alter, in dem man gewissenhaft damit beginnen muß, den Körper gegen die normalen Verfallserscheinungen der Zeit zu schützen. Mens sana in corpore sarto. Ja, er ist bei ausgezeichneter Gesundheit, und seine inneren Organe sind noch dieselben, mit denen er eines frostigen Wintermorgens 1976 geboren wurde. Auf, nieder, auf, nieder, bis er außer Atem kommt. Manchmal erscheint es ihm seltsam, daß seine energische Morgengymnastik den alten Mann nicht aus dem Schlaf reißt, doch der Strom telemetrischer Daten fließt natürlich nur in einer Richtung, und während Schadrach sich auf dem Balkon in Schweiß arbeitet, schnarcht der Vorsitzende ruhig und nichtsahnend weiter.
Schwitzend und schnaufend vor Anstrengung beschließt er endlich, daß er genug getan hat. Er fühlt sich frisch und aufgeschlossen, macht sich kaum Sorgen wegen des bevorstehenden chirurgischen Eingriffs. Er wäscht sich, kleidet sich an, läßt sich das gewohnte leichte Frühstück bringen und wendet sich seinen täglichen Pflichten zu.
Als erstes tritt er vor Sperre drei, durch die er jeden Tag in die Wohnräume des Vorsitzenden gelangt. Die Sperre ist eine breite und hohe Bronzetür, die neben den in Relief ausgeführten Symbolen von Partei und Staat ein Dutzend warzenähnlicher Kegel zwischen drei und neun Zentimetern Höhe aufweist. Einige dieser Gebilde beherbergen audiovisuelle Überwachungsgeräte, hinter anderen verbergen sich Waffen von unentrinnbarer Tödlichkeit; und Schadrach hat keine Ahnung, welche dieser Warzen was darstellen. Wahrscheinlich kann morgen eine Laserkanone sein, was heute noch ein verborgenes Fernsehauge mit Mikrofon ist; mit solchen scheinbar willkürlichen Funktionsänderungen gelingt es für den die Sicherheit des Vorsitzenden Verantwortlichen, mögliche Attentäter zu verwirren.
»Schadrach Mordechai zur Arztvisite beim Vorsitzenden«, sagt er mit klarer, fester Stimme zu der Öffnung, hinter der er das Mikrofon vermutet.
Sperre drei läßt ein sanftes Summen hören und unterzieht Schadrachs Erklärung einer Analyse durch Stimmenvergleich. Zugleich werden Größe, Gewicht, Haltung, Aussehen, Wärmeabgabe und vieles mehr von unsichtbaren Sensoren überprüft. Entsprechen eine oder mehrere dieser Einzeldaten nicht der gespeicherten Norm, so wird automatisch die Wache alarmiert, um den Besucher einer genaueren Kontrolle zu unterziehen. Fünf solcher Sperren schützen die fünf Zugänge zum Wohntrakt des Vorsitzenden; es sind die ausgeklügeltsten Türen, die je entwickelt wurden. Selbst Daidalos hätte für König Minos keine bessere Barriere schmieden können.