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»Schadrach!«

»Ich kann nichts dafür. Ich bin in einer postoperativen manischen Phase.«

»Ich aber nicht. Ich habe einen schlechten Tag hinter mir.« Tatsächlich ist ihre Niedergeschlagenheit offenkundig, sobald er lange genug zur Ruhe kommt, um es wahrzunehmen: ihre Augen wirken überanstrengt, das Gesicht ist gespannt, die Schultern wirken eingefallen.

»Sind deine Versuche mißlungen?«

Sie nickt. »Wir haben sie ganz und gar verpfuscht. Ich verwechselte ein paar Spulen und löschte drei wichtige Bänder, bevor einer von uns merkte, was geschah. Nun versuche ich zu retten, was noch übrigblieb. Das wirft uns einen, eineinhalb Monate zurück.«

»Arme Nicki. Kann ich irgendwie helfen?«

»Ja, du kannst mich ablenken und erheitern«, sagt sie. »Komische Gesichter schneiden. Wie verlief die Operation wirklich?«

»Glatt und fehlerlos. Warhaftig ist ein Zauberer. Er könnte einer Amöbe mit den bloßen Händen einen neuen Zellkern einpflanzen.«

»Und der Vorsitzende ruht?«

»Er schlummert wie ein Kind«, sagt Mardechai. »Es ist beinahe unanständig, wie ein siebenundachtzigjähriger Mann alle paar Monate irgendwo operiert wird und jedes Mal im Nu wieder auf den Beinen ist.«

»Ist er wirklich siebenundachtzig?«

Schadrach zuckt die Achseln. »Das ist die offizielle Angabe. Es gibt Geschichten, daß er älter sei, neunzig, fünfundneunzig, sogar über hundert. Gerüchte wollen wissen, er habe im Zweiten Weltkrieg gedient. Ob es stimmt, kann ich nicht sagen. Die Altersangaben gelten ohnehin nur für das Gehirn, das Skelett und die Haut mit dem Fleisch darunter. Der Rest ist aus neueren Teilen zusamme ngestückelt. Eine Lunge hier, eine Niere dort, Arterien aus Dacron, Hüftgelenke aus Keramik, eine Schulter aus Molybdänstahl, alle paar Jahre eine neue Leber… ich weiß selbst nicht, wie das alles zusammenwirkt. Aber er scheint die ganze Zeit jünger und kräftiger und schlauer zu werden. Du solltest hören, wie seine Lebensfunktionen hier in mir dahinticken.«

Sie legt die Hand an Schadrachs Hüfte, als wolle sie die eingepflanzten Empfänger fühlen. »Tatsächlich; für sein Alter geht es ihm ausgezeichnet. Im Augenblick schläft er mit einer Krankenschwester. Warte, ich glaube, er kommt! Nein, es war nur ein Niesen. Und nun kann ich sogar hören! Gesundheit, sagte sie gerade. Übrigens, wie sieht es mit seinem Geschlechtsleben aus?«

»Ich versuche nicht zu fragen.«

»Sagen dir die Signalgeber nichts darüber?«

»Honi soit qui mal y pense«, sagt Schadrach. »Bestimmt hat er ein beneidenswertes Geschlechtsleben; wahrscheinlich ein aktiveres als ich.«

»Du hättest letzte Nacht nicht allein zu schlafen brauchen.«

»Mein Berufsethos verlangte es von mir.« Er zeigt zur Tür. »Karakorum?«

»Ja, einverstanden. Aber zuerst muß ich mich waschen und umziehen.«

Sie gehen in ihre Wohnung, die im vierten Stock des Gebäudeflügels ist. Der persönliche Mitarbeiterstab des Vorsitzenden, zu dem auch die Leiter der von ihm ins Leben gerufenen Forschungsprojekte gehören, hat Wohnungen im Regierungspalast. Nicki Crowfoots Quartier besteht aus zwei kleinen, einfach möblierten Zimmern mit Küche und Bad. Die Böden sind aus gewöhnlichen Holzdielen, es gibt keinen Balkon, und die Aussicht ist beschränkt. Schadrach läßt sich in einem Korbsessel nieder, während Nicki sich auszieht und zum Duschbad geht. Ihr nackter Körper ist von starker sinnlicher Schönheit, und beim Anblick ihrer schweren Brüste und den kräftigen Schenkeln regt sich Verlangen in ihm. Sie ist groß gewachsen und schlank, mit kräftigen Schultern, einer schmalen Taille und ausladenden Hüften. Eine Fülle dichten schwarzen Haares hängt ihr bis in Höhe der Ellbogen über den Rücken. Unbekleidet verliert sie die Ausstrahlung arbeitsamer Sachlichkeit, die im Laboratorium charakteristisch für sie ist, und wird zu etwas Primitivem, Barbarischem, Naturhaftem — Pocahontas oder die mondgezeugte Nokomis. Einmal, als sie zusammen im Bett waren und er solche fiebrigen Vergleiche anstellte, wurde sie verlegen und versuchte sich zu revanchieren, indem sie ihn Othello und Ras Tafari nannte; danach hat er ihre indianische Herkunft nie wieder offen romantisiert, denn er hat es seinerseits nicht gern, wenn man ihn mit seinen Ahnen aus dem afrikanischen Busch aufzieht, aber wann immer sie sich vor ihm entblößt, stellt sich das Gefühl ein, daß sie die Prinzessin eines untergegangenen Königreichs sei, eine Hohepriesterin der Felsengebirge, eine rote Amazone aus heidnischer Nacht.

Sie kommt wieder zum Vorschein und schmückt sich mit einem langen, leichten Gewand und einem Überwurf aus weitmaschiger Goldimitation. Bei jeder Bewegung zeichnen sich Hüften und schokoladefarbene Brustwarzen durch das Gewebe ab, und er würde am liebsten in diesem Augenblick mit ihr schlafen, doch er weiß, daß sie müde und hungrig ist, noch mit den Enttäuschungen des Tages beschäftigt und ganz und gar nicht in der geeigneten Stimmung. Außerdem sind ihr Nachmittagspaarungen zuwider und sie zieht es vor, erotische Spannungen während eines Abends anwachsen zu lassen. Daher begnügt er sich mit einem flüchtigen Kuß und einem anerkennenden Lächeln, dann gehen sie hinaus, verlassen das Gebäude und lenken ihre Schritte zur U-Bahn-Station.

Karakorum liegt vierhundert Kilometer westlich von Ulan Bator. Vor Jahren, noch in der Euphorie der nachrevolutionären Phase, beschloß man, beide Städte durch eine unterirdische Schnellbahn zu verbinden. Der Tunnel wurde mit einer nuklear betriebenen Bohrausrüstung aus dem gewachsenen Fels tief unter der mittleren Gobi herausgeschmolzen, so daß kein Abraummaterial anfiel und eine absolut wasserundurchlässige Tunnelröhre aus glasig erstarrtem Gestein entstand. Jetzt verkehren Hochgeschwindigkeits-Magnetkissenzüge zwischen der alten und der neuen Hauptstadt und legen die Entfernung in weniger als einer Stunde zurück. Zwar hat man inzwischen erkannt, daß der Betrieb wegen des hohen Energieverbrauchs unwirtschaftlich ist, und daß der Bau der unterirdischen Schnellbahn von Anfang an eine reine Prestigeangelegenheit ohne echte Notwendigkeit gewesen ist, aber die immer wieder auftauchenden Pläne zur Stillegung scheitern regelmäßig am Widerstand einer breiten Phalanx von Funktionären und Regierungsbeamten, die in den Ausflügen von Karakorum die einzige Abwechslung vom eintönigen Leben in der nüchternen, reizlos gelegenen Hauptstadt erblicken.

Schadrach Mordechai und Nicki Crowfoot schließen sich der vergnügungshungrigen Menge auf dem Bahnsteig an; der nächste Zug ist in wenigen Minuten fällig. Mehrere Leute grüßen sie, aber niemand kommt zu ihnen. Von einem exotischen und wirklich eindrucksvollen Paar geht etwas Einschüchterndes und Unnahbares aus, und Schadrach weiß, daß er und Nicki eindrucksvoll und exotisch sind. Aber es ist ein weiterer isolierender Faktor mit im Spiel — Schadrach Mordechais berufliche Nähe zum Vorsitzenden. Diese Leute sind sich bewußt, daß er zu den wenigen gehört, die persönlichen Umgang mit Dschingis Kahn II. Mao haben, und etwas vom Nimbus des Vorsitzenden ist auf ihn übergegangen und bewirkt, daß man sich nicht unbefangen an ihn wendet. Er bedauert das, vermag aber wenig dagegen.

Der Magnetkissenzug fährt ein. Schadrach und Nicki sind unterwegs nach Karakorum.

Karakorum. Vor achthundert Jahren von Dschingis Khan gegründet. Von seinem Sohn Ügödei aus einer Nomadensiedlung zu einer glänzenden Hauptstadt gemacht. Eine Generation später von Dschingis Khans Enkel Kublai Khan aufgegeben, der es vorzog, in Peking zu residieren. Später von Kublai Khan zerstört, als sein rebellischer jüngerer Bruder versuchte, die alte Mongolenhauptstadt zum Zentrum seines Auf Stands zu machen. Nach einiger Zeit wieder aufgebaut, abermals verlassen und dem Verfall preisgegeben, schließlich gänzlich in Vergessenheit geraten, erst im zwanzigsten Jahrhundert von Archäologen aus der Sowjetunion und der Mongolischen Volksrepublik wiederentdeckt und zur Jahrtausendwende auf Veranlassung Dschingis Khan II. Mao um ein — nach Meinung von Kulturhistorikern freilich geschmackloses und fragwürdiges — neues Karakorum bereichert, das die Welt an die Größe Dschingis Khans erinnern und die Jahrhunderte der Bedeutungslosigkeit vergessen machen soll, die auf den Niedergang der mongolischen Großreiche folgte.