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Nachts glitzert und funkelt das neue Karakorum wie einer der alten Rummelplätze längst versunkener Zeiten. Beim Verlassen der unterirdischen Station erblicken Schadrach und Nicki zur Linken die ausgegrabenen Ruinen des alten Karakorum: eine einsame Schildkrötenplastik aus Stein im gelben Steppengras, die niedrigen Umrisse einiger Ziegelmauern, eine geborstene Säule. In der Nähe erheben sich graue Stupas, Erinnerungsmonumente an heilige Lamapriester, errichtet im sechzehnten Jahrhundert. Vor den dürren Hügeln in der Ferne liegen die mit schneeweißem Stuck verkleideten Gebäude der Karakorum-Staatsfarm, einer grandiosen Schöpfung der alten Mongolischen Volksrepublik, zu der eine halbe Million Hektar Grasland gehören. Zwischen den Farmgebäuden und den alten Stupas liegt das Karakorum des Vorsitzenden, eine talmihafte und fantastische Rekonstruktion der ursprünglichen Stadt mit dem ausgedehnten Palast des Ügödei, nach der Vorstellung seiner Neuerbauer voller Säulenarkaden, dem exotisch anmutenden, vieltürmigen Observatorium, den Moscheen und Kirchen, den prächtig eingerichteten Jurten und Seidenzelten des mongolischen Adels, den mit geschweiften Dächern und Drachenköpfen verzierten Ziegelhäusern der chinesischen Kaufleute, dem kuppelreichen, weitläufigen Lehmgebäude einer turkestanischen Karawanserei — alles zur Erinnerung an vergangene Größe, als passender Rahmen für Zerstreuungen und Vergnügungen und schließlich zum größeren Ruhm des Vorsitzenden der Vorsitzenden, Dschingis Khan II. Mao, der dem Vernehmen nach mit einem sehr viel bescheideneren mongolischen Namen zur Welt gekommen war, nämlich als Choijamtse oder Ochirbal, je nach der bevorzugten Version, und ein ziemlich unbedeutender Parteifunktionär in der Hierarchie der alten Mongolischen Volksrepublik gewesen war, bevor die Welt von den Flammen des Krieges verheert worden war und der spätere Vorsitzende, inzwischen zum Marschall und Volkshelden aufgestiegen, mit beispielloser Härte und Energie die Weltrevolution vorangetrieben hatte.

Heute ist das — ursprünglich als Gedenkstätte konzipierte — neuerstandene Karakorum ein Vergnügungspark, ein Ort der Lustbarkeit und des Genusses, erfüllt von hektischem Leben. In den Palastgebäuden und Prunkzelten kann man essen und trinken und sogar dem verpönten Glücksspiel frönen. Hier kann man bereitwillige Geschlechtspartner aller Arten finden, und der in einer arm und trist gewordenen Welt verbreiteten Neigung zur Realitätsflucht kommt ein reichhaltiges Angebot von Einrichtungen entgegen, die verschiedene Formen von Halluzinationen bieten — Traumtod, Transtemporalismus und Bewußtseinserweiterung. Schadrach ist ein Anhänger der letzteren; Nicki Crowfoot ist mehr für Transtemporalismus, womit auch er sich schon beschäftigt hat, wenn auch nicht in letzter Zeit. Einmal war er mit Katja Lindman in Karakorum, und diese ungestüme, energische Frau drängte ihn, mit ihr Traumtod zu versuchen, doch er weigerte sich, und noch Tage danach ließ sie ihn ihre Geringschätzung spüren. Nicht mit Worten, aber mit kurzen, abschätzigen Blicken, einem Zukken der eleganten Nasenflügel, einem spöttischen Verziehen der Mundwinkel.

Wie sie jetzt am Traumtod-Pavillon vorbeigehen, ohne ihm mehr als flüchtige Beachtung zu schenken, und während Schadrach noch bemüht ist, das Vorstellungsbild von Katja Lindmans entblößtem Körper aus seinen Gedanken zu vertreiben, sagt Nicki: »Ist es nicht riskant, daß du ein paar Stunden nach einer schweren Operation so weit von Ulan Bator fortgehst?«

»Nicht besonders. Tatsächlich gehe ich am Abend nach einer Transplantation immer aus. Das ist eine kleine Entschädigung, die ich mir nach einem schweren Tag gönne. Übrigens ist es eine sehr günstige und passende Gelegenheit für einen Ausflug nach Karakorum.«

»Wieso?«

»Er liegt in der Intensivstation. Sollten irgendwelche Komplikationen auftreten, so geben die Überwachungsgeräte augenblicklich Alarm, und der diensttuende Arzt ist zur Stelle. Schließlich verlangt meine Stellung nicht von mir, daß ich dem alten Mann vierundzwanzig Stunden am Tag die Hand halte. Das ist nicht erforderlich, und er will es auch gar nicht.«

Über dem Palast wird plötzlich ein Feuerwerk abgebrannt. Raketen steigen in den Sternhimmel, zerplatzen zu grünen, roten und goldenen Rosetten und Rädern, die sekundenlang herabstrahlen, bevor sie verblassen und von neuen Rädern und Lichtgarben abgelöst werden. Schadrach bildet sich ein, das Gesicht des Vorsitzenden herabblicken zu sehen, aber nein, bloß Selbsttäuschung. Das Muster der Feuerwerksexplosionen ist ganz zufällig und abstrakt.

»Wenn eine Notsituation entsteht, wird man dich rufen, nicht wahr?« fragt Nicki.

»Das wird nicht nötig sein«, antwortet Mordechai. Aus dem Traumtod-Pavillon dringt unheimliche, dissonante Musik. Er erschauert und klopft leicht auf seinen Oberschenkel, wo ein paar der eingepflanzten Signalgeber sind. »Erstens werde ich bei einem postoperativen Kollaps nicht gebraucht, weil die Intensivstation über alle Möglichkeiten verfügt, und zweitens bin ich über sein Befinden auf dem laufenden.«

»Selbst hier draußen?«

Er nickt. »Die Grenze liegt bei etwa tausend Kilometern. Ich empfange ihn klar: Er scheint zu schlafen, ruht jedenfalls aus, seine Temperatur liegt ungefähr ein Grad über normal, der Puls ist ein wenig beschleunigt, die neue Leber integriert sich recht ordentlich und wirkt sich bereits günstig auf sein allgemeines Stoffwechselsystem aus. Bei einer Verschlimmerung seines Zustandes bin ich sofort im Bilde und kann in eineinhalb Stunden bei ihm sein, sollte das nötig werden. Einstweilen bleibe ich unterrichtet und genieße die Freiheit, mich zu amüsieren.«

»Immer mit dem Bewußtsein seines Gesundheitszustands.«

»Ja, immer. Selbst wenn ich schlafe, ticken die Impulse in mir weiter.«

»Deine eingepflanzten Signalgeber interessieren mich psychologisch«, sagt Nicki. Sie bleiben vor einem Süßigkeitenstand stehen, um Erfrischungen zu kaufen. Der Verkäufer, ein gedrungener, breitnasiger Mongole, bietet ihnen Airag an, das alte mongolische Nationalgetränk aus vergorener Pferdemilch. Schadrach nimmt zwei Becher, einen für sich und einen für Nicki. Sie macht ein Gesicht, trinkt aber und findet es erfrischend. »Ich meine, wenn ich dich und den Vorsitzenden unter strikt kybernetischen Gesichtspunkten betrachte, ist es schwierig zu entscheiden, wo deine Individualität aufhört und seine anfängt. Du und er, ihr bildet eine einzige, sich selbst korrigierende, Informationen verarbeitende Einheit, praktisch ein einziges Lebenssystem.«

»So sehe ich es eigentlich nicht«, erwidert Mordechai. »Es mag einen ständigen Informationsfluß von seinem Körper zum meinigen geben, und die von ihm empfangenen Informationen haben auch einen Einfluß auf mein und dadurch unter Umständen auch auf sein Handeln, aber er bleibt ein autonomes Wesen, der Vorsitzende des Revolutionsrates, ausgestattet mit aller Macht und allen Privilegien, die das mit sich bringt, während ich bloß…«

»Nein, du mußt es aus einem anderen Blickwinkel sehen«, widerspricht Nicki ungeduldig. »Nehmen wir an, du wärst Michelangelo und versuchtest einen gewaltigen Marmorblock in den David zu verwandeln. Die Gestalt ist im Marmor eingeschlossen; du mußt sie mit Schlegel und Meißel befreien, nicht wahr? Du schlägst auf den Block, und ein Marmorsplitter wird abgespalten. Du schlägst wieder zu, und ein weiterer Marmorsplitter fällt. Nach ein paar Dutzend Schlägen beginnen vielleicht die Umrisse eines Arms Gestalt anzunehmen. Der Winkel, mit dem du den Meißel ansetzt, ist bei jedem Schlag verschieden. Und vielleicht ist auch die Kraft, mit der du den Schlegel handhabst, bei jedem Schlag unterschiedlich. Ständig veränderst und berichtigst du deine Schläge nach den Informationen, die du von der bearbeiteten Oberfläche des Marmorblocks empfängst — von den hervortretenden Umrissen, den richtigen Spaltflächen des Gesteins, und so weiter. Der Prozeß, bei dem Michelangelos David geschaffen wird, besteht keineswegs nur darin, daß du, Michelangelo, auf einen passiven Steinblock einwirkst. Auch der Marmor ist eine aktive Kraft, Teil des Kreises, in gewissem Sinne auch Teil des Denksystems, das Michelangelo der Bildhauer ist. Wenn…«