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»Ich sehe nicht…«

»Laß mich ausreden. Jede Veränderung, die den Umriß oder die Oberflächengestaltung des Marmors betrifft, wird von deinem Auge wahrgenommen und von deinem Gehirn eingeschätzt, das darauf Anweisungen an die Muskeln deines Arms aussendet, Anweisungen, welche die Stärke des nächsten Schlages und den Ansatzwinkel des Meißels betreffen. Dies bewirkt eine Veränderung der Reaktion deiner Nerven und Muskeln beim nächsten Schlag und führt zu einer weiteren Veränderung der Marmoroberfläche, die wiederum zu neuer Wahrnehmung und einer weiteren Abwandlung des Programms im Gehirn Anlaß gibt, woraus eine neuerliche Korrektur der neuromuskulären Reaktionen entsteht, und so weiter, bis die Statue fertig ist. Die Bildhauerei ist ein Prozeß der Wahrnehmung und des Reagierens auf Veränderung, und der Marmorblock ist ein wesentlicher Teil des gesamten Systems.«

»Er hat nicht darum gebeten, es zu sein«, sagt Schadrach nachsichtig. »Er weiß nicht, daß er Teil eines Systems ist.«

»Das ist unwichtig. Du mußt das System als ein in sich geschlossenes Universum betrachten. Der Marmor wird verändert, und seine Veränderungen erzeugen Veränderungen in Michelangelo, die zu weiteren Veränderungen des Marmors führen. Innerhalb des geschlossenen Universums von Bildhauer, Werkzeug und Marmor ist es unrichtig, Michelangelo als das ›Selbst‹ zu betrachten, als den Alleinhandelnden, den Marmor aber als ein Ding, auf das eingewirkt wird. Bildhauer, Werkzeug und Marmor ergeben zusammen ein Netzwerk von kausalen Verbindungen, eine einzige denkende, handelnde und sich verändernde Einheit und insofern eine einzige Person. Nun, du und der Vorsitzende…«

»Wir sind verschiedene Personen«, beharrt Schadrach. »Der Rückkopplungsprozeß ist nicht der gleiche. Wenn seine Niere versagt, reagiere ich in dem Ausmaß, daß ich die Fehlfunktion wahrnehme, behandle und nötigenfalls Vorbereitungen für eine Nierentransplantation treffe, aber ich werde nicht selbst krank. Und wenn mit meinen Nieren etwas schief geht, dann beeinflußt ihn das in keiner Weise.«

Sie zuckt die Achseln. »Das ist wahr, aber nebensächlich. Siehst du nicht, daß die kausale Verbindung zwischen euch beiden intimer ist? Dein gesamter Tagesablauf wird von den Signalen beherrscht, die du von ihm empfängst; ob du allein schläfst, oder bei mir, ob du nach Karakorum fährst oder in seiner Nähe bleibst, hängt allein von seiner Gesundheit ab. Wenn eines der Signale von ihm eine Verschlechterung seines Zustands meldet, erlebst du somatische Beklemmungen. Ein großer Teil deiner Möglichkeiten und Lebensäußerungen werden beinahe ausschließlich von seinem Stoffwechsel beherrscht. Du bist eine Verlängerung seines Körpers. Und wie steht es mit ihm? Er lebt oder stirbt nach deiner Wahl. Er mag Vorsitzender des Revolutionsrates sein, aber schon nächste Woche wäre er einfach ein toter Mann mehr, wenn du es versäumen würdest, ein wichtiges Symptom zu erkennen und die entsprechende Behandlung einzuleiten. Du bist die Garantie für sein Überleben, und er beherrscht die meisten deiner Entscheidungen und Handlungen. Ihr seid Teile eines Systems, Schadrach, Teile eines geschlossenen Kreislaufs, du und der Vorsitzende, der Vorsitzende und du!«

Schadrach schüttelt wieder den Kopf. »Die Analogie ist treffend, aber nicht treffend genug, um mich zu überzeugen. Es ist wahr, ich bin mit einigen außerordentlichen diagnostischen Geräten ausgestattet, aber so einzigartig sind sie wiederum nicht; sie helfen mir, rascher auf Notfälle zu reagieren, als ein gewöhnlicher Hausarzt auf die Leiden eines gewöhnlichen Patienten reagieren mag, das ist alles. Der Unterschied ist nur quantitativ. Du kannst jede Arzt-Patient-Beziehung als ein einziges, sich selbst berichtigendes, Informationen verarbeitendes System betrachten, aber ich denke nicht, daß die Verbindung zwischen dem Vorsitzenden und mir etwas davon grundsätzlich Verschiedenes ist. Würde ich krank, wenn er das Bett hüten muß, hättest du recht, aber…«

Nicki Crowfoot seufzte. »Laß gut sein. Es ist all dies Palaver nicht wert. Im Laboratorium haben wir ständig mit dem Prinzip zu tun, daß die allgemein gültige Vorstellung vom ›Selbst‹ ziemlich bedeutungslos ist, daß man in Begriffen von größeren Systemen denken muß, aber vielleicht dehne ich das Prinzip auf Gebiete aus, wo es nicht ohne weiteres anwendbar ist. Oder vielleicht klappt es im Moment nicht mit unserer Kommunikation.« Sie schließt einen Moment die Augen, und ihr Gesicht verhärtet sich, als versuche sie einen störenden Gedanken zu unterdrücken, der ihr durch den Sinn geht. Eine neue Salve von Feuerwerkskörpern erhellt den Himmel mit grünen und grellroten Explosionen. Wilde, stachlige Musik, nichts als Knurren und Kreischen, durchdringt die Luft. Nicki entspannt sich, lächelt, nickt zu dem im Licht bunter Lampions schimmernden Zelt der Transtemporalisten hinüber und sagt: »Genug davon. Jetzt etwas Abwechslung.«

6

»Wenn Sie es wünschen, werde ich Sie mit unserem Brauch bekannt machen«, sagt der Transtemporalist mit tiefer, undeutlicher Stimme. Er ist ein Mongole mit unbewegtem, monolitisch erscheinendem Gesicht, das nur aus Nase und Backenknochen zu bestehen scheint; die Augen sind in den Schatten ihrer Höhlen verborgen.

»Nicht nötig«, antwortet Mordechai. »Ich bin schon hier gewesen.«

»Ja, natürlich.« Der Mann zeigt ein kaum merkliches Lächeln. »Ich war mir dessen nicht sicher, Doktor Mordechai.«

Schadrach ist es gewohnt, erkannt zu werden. Die Mongolei wimmelt von Fremden, aber es sind sehr wenige Schwarze darunter. Darum ist er kaum überrascht, als er seinen Namen aus dem Mund des Mongolen hört. Gleichwohl hätte er hier in Karakorum mehr Anonymität begrüßt. Der Transtemporalist kniet nieder und bedeutet ihm, das gleiche zu tun. Sie sind in einem kleinen, von Teppichen, die im Innern des großen, halbdunklen Zelts über gespannte Seile gehängt sind, eingefaßten Abteil. Zwischen ihnen flackert das Licht einer dicken gelben Kerze, die in einem zinnernen Halter auf dem irdenen Boden steht, und schickt eine Spirale schwarzen, säuerlich riechenden Rauchs zum ansteigenden Zeltdach empor. Andere, urtümliche Gerüche dringen Schadrach in die Nase, der durchdringende Geruch der zottigen Ziegenfelle, aus denen die Außenwand besteht, und der stechende, bittere Gestank eines mit Kuh- oder Kameldung genährten Feuers irgendwo in seiner Nähe. Der Boden ist mit Sägemehl bestreut, ein Luxus in diesem Land weniger Bäume. Der Transtemporalist beschäftigt sich mit der Chemie seines Berufs und mischt Flüssigkeiten in einem großen Zinnbecher, eine ölige blaue und eine dünne rosafarbene, die er mit einem elfenbeinernen Stab umrührt, um schließlich Prisen eines grünen und eines gelblichen Pulvers hinzuzufügen. Schadrach argwöhnt, daß das meiste davon Hokuspokus ist, daß nur eine dieser Substanzen die wahre Droge ist, während die anderen bloße Dekoration sind. Aber Rituale gleich welcher Art verlangen nach Geheimnis und Farbe, und diese ernsten, herben Priester ihres Gewerbes, die in einer uralten schamanistischen Tradition wurzeln und von sich behaupten, in allen Bereichen des Raumes und der Zeit zu Hause zu sein, müssen ihre Effekte nach bestem Vermögen erhöhen. Schadrach fragt sich, wie weit Nicki in diesen Augenblicken von ihm entfernt ist. Sie wurden am Eingang zum Zelt getrennt und jeder von schweigsamen Türhütern durch das Halbdunkel zu einem anderen Abteil geführt. Die Reise in Zeit und Raum muß jeder allein antreten.

Der Mongole beschließt seine Vorbereitungen, hebt den Zinnbecher behutsam mit beiden Händen empor und reicht ihn über die zuckende Kerzenflamme hinweg Schadrach Mordechai.