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— Ai! El fin del mundo!

— Madre de Dios! La montana!

— Ayuda! Ayuda!

Und die Flucht aus Quito beginnt. Noch ist nichts geschehen, nichts als das unheimliche Rumpeln und Dröhnen im Untergrund und ein leichtes Schwanken des Erdbodens, wenn man vom dumpfen Brüllen und Donnern des Cotopaxi absieht, über dem eine ungeheure und stetig weiterwachsende grauschwarze Wolke steht. Doch die Bewohner der Stadt verlassen ihre Häuser, drängen auf die Straßen und Plätze und beginnen aus der Stadt zu ziehen — nordwärts, fort von der schrecklichen, mit rot und gelb durchschossenen Wolke, die sich über das Land auszubreiten beginnt, fort von dem Tod, der bald über Quito kommen wird. Die meisten haben alles zurückgelassen, tragen nur ein Bündel Kleider oder vielleicht ein Kruzifix bei sich. Es sind Menschen, die sich mit Vulkanen auskennen, und sie bleiben nicht, um sich das Schauspiel anzusehen. Schadrach Mordechai wird vom Menschenstrom mitgerissen. Er überragt die meist untersetzten Gestalten der Mestizen und Indios, die ihm mißtrauische, aber auch seltsam erwartungsvolle Blicke zuwerfen, als hielten sie ihn für einen Magier oder eine schwarze Gottheit, gekommen, sie in Sicherheit zu führen. Aber er führt niemanden. Er folgt dem Zug der Flüchtlinge, ist hilflos wie alle anderen. Manchmal, wenn der Druck der Nachdrängenden es ihm erlaubt, macht er halt und blickt zurück. Der Vulkan speit jetzt Bimsstein und Asche, pulveriges Material, das die Luft gelb färbt und die Sonne zu einem stumpfen Orangerot verblassen läßt. Wieder rumpelt und grollt es tief im Erdinnern. Die ganze Stadt erbebt; Dachziegel und erste Mauerbrocken prasseln auf die Straßen herab. Automobile mit gutgekleideten Bürgern der Oberklassen kriechen unablässig hupend durch die Straßen, außerstande, im Strom der Fußgänger voranzukommen; es kommt zu Auseinandersetzungen, Geschrei, Tätlichkeiten. Wagen werden umgeworfen, einer geht in Flammen auf. Die nachfolgenden Fahrzeuge kommen nun nicht mehr weiter und müssen von ihren Passagieren aufgegeben werden. Schadrach marschiert mechanisch im Zug der Flüchtlinge dahin. Die Luft ist diesig geworden und hat einen beißenden, bitteren Geruch, der einen husten macht. Schadrach ist noch nicht aus der Stadt, als es Asche zu regnen beginnt, und als er die Vorstadt erreicht, liegt der schwarze Schnee bereits knöcheltief auf den Straßen. In der Ferne dauert das dumpfe Donnern der Eruptionen an, und die Leute mühen sich durch den Aschenregen weiter, so gut sie können, halten sich Kopftücher und Lappen vor Mund und Nase. Schadrach weiß, was bald geschehen wird. Mit der unheimlichen, zweischneidigen Sicht des Zeitreisenden blickt er vorwärts und rückwärts zugleich, erinnert sich der Zukunft. Nicht lange, und eine noch in tausend Kilometern Entfernung gehörte Explosion wird den Cotopaxi zerreißen. Erdbeben, Aschenregen und erstickende Gaswolken werden weite Landstriche verwüsten. Er hat diese Nacht schon einmal durchlebt, aber nicht mit dem Wissen, das er jetzt besitzt. Irgendwo in weiter Ferne ist in diesem Augenblick der fünfzehnjährige Schadrach, ganz Arme und Beine und große Augen, macht zu Hause in Philadelphia seine Hausaufgaben und träumt vom Medizinstudium. Er wird in den Abendnachrichten von der Katastrophe erfahren und sich darunter nicht allzu viel vorstellen können, aber am nächsten Morgen wird er den Himmel gelbgetönt sehen, mit einer stumpfroten, bedrohlich wirkenden Sonne, und dann wird tagelang der feine Staub fallen und den Sommertagen frühe Dämmerung bringen. Und aus Südamerika werden immer neue Schreckensnachrichten über die furchtbare Eruption und den Verlust von Hunderttausenden von Menschenleben bekannt. Was jener junge Schadrach nicht weiß, was bis auf den Fremden, der im Aschenregen durch die nördlichen Vororte von Quito stapft, niemand weiß, ist, daß die Explosion des Cotopaxi mehr als ein Naturereignis darstellt: sie signalisiert eine politische Apokalypse, den endgültigen Zusammenbruch der versteinerten alten Herr Schafts Strukturen des Subkontinents, und von hier ausgehend, in anderen Teilen der Welt.

— El fin del mundo!

Ja. Das Ende einer Welt.

Und nun kommt die Explosion.

Sie ereignet sich in Etappen. Zuerst vernimmt man fünf deutlich unterschiedene, dumpf krachende Explosionen wie von Geschützfeuer; darauf folgt eine sekundenlange völlige Stille, während der sogar das anhaltende Grollen und Rumoren im Erdinnern verstummt; dann erfolgt ein heftiger Erdstoß, begleitet von einem einzigen monströsen Schlag, dem lautesten Geräusch, das Schadrach je gehört hat, einem ohrenbetäubenden Donnerschlag, der Fenster eindrückt und Mauern spaltet; dann abermals Stille; dann wieder das Grollen und Rumoren; dann neuerliches Geschützfeuer, eine Folge rascher, harter Schläge; darauf wieder Stille, eine unheilverkündende, drohende, nervenaufreibende Stille; und schließlich das Geräusch aller Geräusche, viel lauter noch als das erste, eine nichtendenwollende, furchtbare Geräuschlawine, die Menschen zu Boden wirft, ihnen die Trommelfelle sprengt und die Augen aus den Höhlen treibt, ein Ton, der wie der Schrei eines zornigen Gottes über das Land hinrollt. Und der Himmel wird schwarz, und rotes Feuer ergießt sich aus dem Berg, der nun in einen niedrigen, breiten Krater verwandelt scheint. Schadrach sieht Brocken des verschwundenen Gipfels herabregnen, die aus fünfzig Kilometern Entfernung klar vor dem brennenden Horizont zu erkennen sind und die Abmessungen großer Gebäude haben müssen. Der vollkommene Kegel, einst so anmutig wie der Fudschijama, ist eine Ruine, trübe sichtbar durch Aschenwolken und Bimssteinregen, ein unregelmäßiger, furchterregender Stumpf. Die Luft wird heißer, bis sie zu brennen scheint. Die Flüchtlinge schleppen sich weiter, einer Rettung entgegen, die sie nie erreichen werden. Die Luft ist kaum noch zu atmen; die Menschen erbrechen, keuchen und husten, sie würgen, fassen sich an die Kehlen, brechen zusammen.

Ayuda! Ayuda!

Aber es gibt keine Hilfe. Sie sterben hier am Nachmittag dieses Tages, der so strahlend begonnen hatte.

Schadrach, verzweifelt in einer Atmosphäre keuchend, die zur Hälfte Asche und zur anderen Hälfte Kohlenmonoxid ist, kann sich selbst kaum noch auf den Beinen halten. Als neben ihm eine junge Frau hinstürzt, die ein kleines Kind auf dem Rücken trägt, erinnert er sich, daß er Arzt ist, und kniet neben ihr nieder. Das Gesicht der Frau ist verzerrt und vom Sauerstoffmangel violett verfärbt.

— Soy medico.

— Gracias, senor. Gracias.

Sie keucht die Worte, daß er sie kaum versteht. Sie blickt in verzweifelt aufflackernder Hoffnung zu ihm auf, erwartet Hilfe, Medizin, einen Trunk Wasser, irgend etwas. Wie kann er ihr helfen? Er ist Arzt, ja, aber kann er die Sterbende lehren, vergiftete Luft zu atmen? Er sieht, daß das Kleinkind auf ihrem Rücken bereits tot ist. Sie würgt und windet sich, dann geht ein Schauer durch ihren Körper, und plötzlich gähnt sie unerwartet. Sie scheint in seinen Armen einzuschlafen. Aber es ist eine tödliche Schläfrigkeit, aus der sie nicht wieder erwachen wird. Er läßt sie sanft zu Boden gleiten, erhebt sich taumelnd, das Taschentuch vor Mund und Nase gedrückt, aber es hat keinen Zweck. Er strauchelt und fällt wieder und kommt nicht mehr hoch, liegt inmitten schluchzender, würgender, stöhnender Opfer, selbst eines von ihnen.

So also war der Tag der Katastrophe. Dunkelheit und Asche, Flucht und Tod. Der freche kleine Junge, die Frauen, die auf den Straßen Fleisch geröstet hatten, die Ladenbesitzer, die Taxifahrer und Polizisten, die reichen Leute aus den Villenvororten, der hochgewachsene, schwarzhäutige Fremde, alle sterben jetzt gemeinsam. Die Stunden der angstvollen Flucht waren umsonst, und Cotopaxis Aschenauswurf füllt den Himmel, taucht die Welt in blutrotes Zwielicht. Weltuntergang, ja. Schadrach krallt nach der Asche, die ihm in den nach Luft schnappenden Mund gedrungen ist. Mit halbem Bewußtsein nimmt er eine weitere Explosion wahr, eine geringere — denn was könnte jenem, letzten, unvorstellbarem, apokalyptischem Ausbruch gleichkommen? — dann zwei oder drei weitere, und er weiß, daß die Explosionen mit abnehmender Stärke noch viele Stunden andauern werden. Heute nacht wird in Ekuador niemand schlafen; der Donner vom Cotopaxi wird von Patagonien bis Mexiko widerhallen und über beide Ozeane hinausreichen. Der neue Tag mit seinem stauberfüllten graugelben Himmel aber wird bereits einer neuen Ära angehören, in der eine alte Welt zu Grabe getragen wird und eine neue entsteht. Aufruhr und Revolution in Brasilien, Argentinien und Kolumbien, von dort übergreifend nach Mittelamerika, Afrika, Indonesien: ein Blutbad liefert das Stichwort für das nächste, und hinter allem steht, bewußt oder unbewußt wahrgenommen, der Cotopaxi als Fanal und Symbol für den Umsturz des Bestehenden. Die wirtschaftlichen Krisen der siebziger Jahre, die Knappheit und die Repressionen der verarmenden achtziger Jahre mußten unausweichlich zum weltweiten Chaos, zur globalen Revolution einer langen Walpurgisnacht führen; die gewaltige Eruption des Cotopaxi wurde auf eine unberechenbare Art und Weise zum auslösenden Signal.