So also war es am Abend der Katastrophe. Die zornigen Götter erschütterten die Welt und brachten Tod und Zerstörung über Gerechte und Ungerechte. Schadrach läßt den Kopf sinken, schließt die Augen und ergibt sich der weichen, warmen Flugasche, die sich friedevoll auf ihn herabsenkt. Dies ist die Nacht des Todes, ja, das Ende einer Welt, der Posaunenschall des Jüngsten Gerichts, das Erbrechen des siebten Siegels, und er ist ein Teil davon gewesen, er hat von der Asche des Vulkans gekostet. Und nun schläft er.
7
Er steht benommen auf dem kiesbestreuten Weg vor dem Zelt der Transtemporalisten, und der schweflige Geschmack des Vulkans hält sich irgendwie in seinem Mund. Nicki ist noch nicht zum Vorschein gekommen. Unter den vielen Vergnügungshungrigen und Bummlern sind verschiedene Leute, die er kennt, Männer und Frauen, die zum persönlichen Mitarbeiterstab des Vorsitzenden gehören, im Sekretariat des Revolutionsrates oder in anderen zentralen Abteilungen arbeiten. Als erster läuft ihm Franco Cifolia über den Weg, der beleibte kleine Elektronikspezialist, der Kontrollraum 1 entworfen hat, dann ein mongolischer Adjutant namens Gonchigdorge, der an seiner schmucklosen Uniform eine Menge Ordensbänder zur Schau stellt, und nach ihm zwei hohe Funktionäre aus dem Exekutivbüro des Revolutionsrates, ein bleicher Türke namens Eyuboglu und ein stämmiger Grieche mit Namen Ionigylakis. Jeder grüßt Schadrach im Vorbeigehen auf seine besondere Art und Weise. Cifolia warm und überschwänglich, Gonchigdorge kühl und korrekt. Eyuboglu vorsichtig, Ionigylakis lärmend. Schadrach bringt in allen Fällen nicht mehr als ein Nicken und ein glasiges Lächeln zustande. Soy medico. Er fühlt noch immer die Erde unter den Füßen grollen und rumpeln. Am liebsten wäre es ihm, man würde ihn in Ruhe lassen. Anonymität sollte in Karakorum oberstes Gebot sein. Besonders jetzt. Mit einem Teil seines Bewußtseins ist er noch immer in den Vorstädten von Quito, stapft halb erstickt durch die alles unter sich begrabende feine warme Asche. Die Rückkehr aus der Welt der Transtemporalisten ist immer ein Schock, aber dies ist einfach zuviel, es ist schlimm wie die Fehlgeburt für ein Siebenmonatskind; er ist verwundet und verwirrt, unfähig, mit den gesellschaftlichen Regeln zurechtzukommen. Der beißende Geruch von Bimsstein und Asche, die Erstickungsanfälle, die erlösende Schläfrigkeit; vor allem aber das erdrückende Bewußtsein des Übergangs, des Zusammenbruchs einer Welt, hinter dem eine neue, fremde in Umrissen sichtbar wird…
Aus dem Zelt der Transtemporalisten kommt ein kleiner, schmächtiger Mann mit unregelmäßigen Zähnen und erstaunlich buschigen roten Augenbrauen. Es ist Roger Buckmaster, ein britischer Fachmann für Mikroelektronik, der wie Franco Cifolia in der Kommunikationsabteilung des Regierungsgebäudes arbeitet, ein tüchtiger und meistens verdrießlicher Mann, den nur wenige näher kennen. Er bleibt in der Nähe des Ausgangs stehen, wenige Meter von Schadrach Mordechai entfernt, und stützt sich mit einer Hand gegen einen Laternenmast, als mißtraue er seinem Gleichgewichtssinn. Er hat den benommenen Ausdruck eines Mannes, der gerade aus einem Wirtshaus geworfen worden ist, nachdem er ein paar Biere zuviel getrunken hat.
Schadrach, obgleich mit Buckmaster nur flüchtig bekannt und keineswegs an einem Gespräch mit ihm interessiert, weiß nur zu gut, wie verwirrend die ersten Augenblicke außerhalb des Zelts sein können, und verspürt eine Aufwallung von Mitgefühl. Er fühlt sich bemüßigt, Buckmasters Ungewissen Blick mit einer höflichen Geste zu begegnen. Er lächelt und sagt hallo, um sich wieder in seine eigene Verwirrung und die damit verbundenen erschöpften Meditationen zurückzuziehen.
Buckmaster aber zwinkert verdutzt, und ein aggressiver Zug kommt in sein Gesicht. »Es ist der schwarze Bastard!« sagt er. Seine Stimme ist undeutlich, verschleimt und alles andere als freundlich. »Der schwarze Bastard persönlich!«
»Schwarzer Bastard?« wiederholt Schadrach verwundert, indem er den Akzent des anderen nachahmt. »Schwarzer Bastard? Mann, haben Sie einen…«
»Bastard, ja. Und schwarz.«
»So hatte ich Sie verstanden.«
»Dann ist es ja gut. Schwarzer Bastard. Schlecht wie das Pik As.«
Eine ebenso peinliche wie lächerliche Situation. »Sagen Sie, Roger, fehlt Ihnen vielleicht was?«
»Schlecht. Schwarz und schlecht.«
»Ich habe Sie gehört, ja«, sagt Schadrach. Ein elender, pulsierender Schmerz beginnt in seiner linken Schädelseite zu bohren. Er bedauert, daß er Buckmasters Gegenwart beachtet hat; er wünscht, der andere würde verschwinden. Er empfindet den beleidigenden Rassismus eher als grotesk denn als beleidigend, denn er hatte nie Grund, sich seiner Hautfarbe zu schämen oder sie verteidigen zu müssen.
Aber die unprovozierte Plötzlichkeit des Angriffs überrascht ihn, und er steht noch immer zu sehr im Bann seiner transtemporalen Erfahrung, um irgendeinen Streit oder Wortwechsel mit einem kriegerischen Clown wie Buckmaster zu wünschen, nicht jetzt, vor allem nicht jetzt. Vielleicht ist es am besten, wenn er ihn einfach ignoriert. Schadrach verschränkt die Arme und wendet sich ab.
Aber Buckmaster sagt in sein Schweigen: »Fühlen Sie sich nicht mit Schande bedeckt, Mordechai?«
»Hören Sie, Roger…«
»Überhäuft mit Schande für jede schmutzige Tat Ihres treulosen Lebens!« fährt Buckmaster fort.
»Kommen Sie zur Vernunft, Mann! Was haben Sie da drinnen getrunken?«
»Das gleiche wie jeder andere. Bloß die Droge, die Zeitdroge, oder was immer sie einem geben. Dachten Sie, man hätte mich Kokain schnupfen lassen? Oder glauben Sie, ich hätte einen zuviel getrunken? Nein, nein, bloß den Zeittrank, aber der hat mir die Augen geöffnet, das kann ich Ihnen sagen: weit geöffnet!«
Buckmaster kommt mit unsicheren Schritten näher, macht unmittelbar vor Schadrach Mordechai halt, starrt ihn erbittert und durchbohrend an. Schadrachs Kopfschmerzen nehmen weiter zu. »Ich habe gesehen, wie Judas ihn verraten hat!« ruft Buckmaster wie von Sinnen. »Ich war dabei, in Jerusalem, beim letzten Abendmahl, habe ihnen beim Essen zugesehen. Dreizehn um den Tisch, nicht wahr? Ja, ich habe mit eigenen Händen den Wein eingeschenkt, Sie schwarzer Teufel! Ich sah Judas’ schmutziges Grinsen, sah, wie er Jesus ins Ohr flüsterte! Und dann hinaus in den Garten, wissen Sie… Gethsemane, da in der Dunkelheit…«
»Möchten Sie ein Beruhigungsmittel, Roger?«
»Lassen Sie mich mit Ihren verfluchten Pillen in Ruhe!«
»Sie erregen sich zu sehr. Ihre Nerven sind überreizt. Sie sollten versuchen, sich zu beruhigen.«
»Er möchte mich behandeln! Mich! Könnte Ihnen so passen, was? Nein, mit mir nicht, und nun hören Sie, was ich Ihnen zu sagen habe…«