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Während ihre Körper in enger Umklammerung den alten animalischen Brauch vollziehen, überrascht Schadrach sich selbst mit der Intensität seiner Leidenschaften. Er weiß nicht genau, ob diese Energie von Nicki ausgeht, oder aus irgendeinem unvermuteten Reservoir in ihm selbst stammt, aber was immer die Quelle sein mag, er ist dankbar dafür und bringt die Sache zu einem angenehmen Abschluß. Danach gleitet er in einen behaglichen Schlummer hinüber, aus dem er erst erwacht, als die melodischen, aber unüberhörbaren elektronischen Signale das herannahende Ende ihrer dreistündigen Mietperiode verkünden. Er findet sich behaglich an Nickis Brüste gebettet. Sie ist wach und scheint es schon längere Zeit zu sein, aber ihr Lächeln ist beseligt, und ohne Zweifel hätte sie ihn die ganze Nacht so gehalten — eine reizvolle Vorstellung. Nun, die Nacht ist ohnedies weit vorangeschritten. Sie stehen auf, waschen sich, kleiden sich an und gehen hinaus in die kühle, vom Mond erhellte Dunkelheit. Wie Kinder, die sich vom Spielplatz nicht trennen mögen, wandern sie in einen Spielsalon, eine Weinschenke und eine Kegelbahn, alle drei vollgestopft mit lärmenden, angetrunkenen Zechern und hohläugig aussehenden Nachtschwärmern, aber sie bleiben nirgendwo länger als ein paar Minuten, wandern so ziellos wieder hinaus, wie sie hineingekommen sind, und endlich gestehen sie einander ein, daß sie genug haben. Also zum Bahnhof. Der Morgen ist nicht mehr fern.

Von der Decke über dem Bahnsteig hängt ein mehrere Quadratmeter großer Bildschirm, der zum Abschluß des Nachtprogramms eine Nachrichtensendung bringt. Schadrach blinzelt trübe hinauf und sieht Mangus Gesicht zurückblicken, aufrichtig, ernst und irgendwie überzeugend. Anscheinend bringt das Fernsehen einen Ausschnitt aus einer Ansprache. Nach und nach, denn er ist sehr müde, erkennt Schadrach, daß es die schon klassisch gewordene Vertröstungsrede ist, die der Vorsitzende traditionell zweimal im Jahr zu halten pflegt und nun offenbar dem Nachfolger delegiert hat. »… vor einem entscheidenden Durchbruch in der pharmakologischen Technik«, sagt Mangu. »… ermutigende Fortschritte… bedeutende qualitative Verbesserungen der Fabrikationstechnologie… dank den unaufhörlichen Bemühungen des Permanenten Revolutionsrates… der umsichtigen und beharrlichen Führung unseres geliebten und verehrten Vorsitzenden… die Verteilung der RonkevicImmunisierung im breitesten Umfang gewährleisten… die Geißel der Organzersetzung endlich gebannt werden… die Zeit rückt näher, wo… eine glückliche, gesunde Menschheit…«

Ein beleibter Mann mit rotem Gesicht und vorquellenden Augen, der ein paar Meter weiter auf dem Bahnsteig steht, lacht behäbig und sagt zu seiner Frau: »Recht hat er. Es dauert nur noch neunzig oder hundert Jährchen.«

»Sei still, Bela!« zischt seine Frau und blickt alarmiert in die Runde.

»Aber es ist die Wahrheit. Es stimmt nicht, daß die fabrikmäßige Herstellung des Gegenmittels schon in Reichweite ist. Ich sage dir, ich habe die Zahlen gesehen. Ich habe verläßliche Gutachten gelesen.«

Schadrach beginnt sich zu interessieren. Der dicke Mann ist Bela Horthy, ein ungarischer Physiker, vor dem Krieg einer der Schöpfer der ersten Produktionsanlage für Fusionsenergie in Bayan Hongor, die jetzt den größten Teil Nordostasiens mit Strom versorgt. Heute bekleidet er eine hohe Stellung im Ministerium für Technologie und zählt zum Beraterstab des Revolutionsrates. Es mutet ein wenig sonderbar an, von einer so hochgestellten Persönlichkeit mit besten Verbindungen zur politischen Führung in der Öffentlichkeit derart subversive Äußerungen zu hören. Freilich ist dies Karakorum, und Horthy, der seine Rede mit fahrigen Handbewegungen begleitet und dessen verschwommener Blick Schwierigkeiten zu haben scheint, sich auf einen festen Punkt zu konzentrieren, steht offensichtlich unter der Nachwirkung einer starken halluzinogenen Droge.

»Die Vorräte des Gegenmittels sind im letzten halben Jahr gleich geblieben oder sogar zurückgegangen«, fährt Horthy fort. Er bildet seine Sätze mit der übertriebenen Genauigkeit des stark Betrunkenen. »Das liegt nicht nur daran, daß die Massenfabrikation aufgrund der schwierigen Herstellungsprozesse nicht möglich ist, sondern auch an der Verderblichkeit; bewahrt man das Zeug länger als ein paar Monate auf, ist es unwirksam. Wer etwas anderes erzählt, der versucht nur die Bevölkerung zu beruhigen und ihr Hoffnung zu machen. Das mag soweit in Ordnung sein, aber auf lange Sicht ist es nicht genug. Man kann den Leuten nicht jahrelang die gleichen Vertröstungen auftischen. Die Menschen sind verständig genug, um die Tatsachen zu akzeptieren, wenn man sie ihnen erklärt…«

Die Frau ist verzweifelt bemüht, ihn zu beruhigen oder wenigstens seine Lautstärke herabzumindern. Sie ist klein und füllig, eine gebürtige Italienerin, die trotz langjähriger Ehe mit Horthy allgemein Donna Labile genannt wird und die Abteilung für Bevölkerungsplanung und Demographie im Innenministerium leitet. Horthy bleibt von ihren Bemühungen jedoch weitgehend unbeeindruckt, und wie er sich einmal schwerfällig umwendet und Schadrach Mordechais ansichtig wird, begrüßt er den Arzt mit einer so übertriebenen Verbeugung, daß er um ein Haar vornüber fällt. Donna Labile umflattert ihn wie ein aufgeregtes Huhn. »Ah, Doktor Mordechai!« trompetet Horthy. »Unseres geliebten Vorsitzenden ergebener Äskulapius! Ich begrüße Sie!«

»… der Höhepunkt unseres unablässigen Kampfes gegen…« sagt Mangu aus dem grünlich schimmernden Bildschirm.

Horthy zeigt mit dem Daumen auf das Abbild des Nachfolgers. »Glauben Sie dieses Zeug, Mordechai?«

Schadrach hegt seine eigenen Zweifel an der Aufrichtigkeit der oft verkündeten Absicht des Vorsitzenden, die Ronkevic-Immunisierung der gesamten Bevölkerung zugänglich zu machen, aber er kennt die objektiven Schwierigkeiten, die einem solchen Vorhaben im Wege stehen, und so ist sein Mißtrauen weder voll ausgebildet, noch hält er dies für den geeigneten Ort, ihm Ausdruck zu verleihen. Er zuckt die Achseln und sagt mit höflicher Stimme: »Ich gehöre nicht zur politischen Führungsspitze, Doktor Horthy. Die einzigen Privilegien und Informationen, die mir zur Verfügung stehen, betreffen Themen wie die innere Sekretion des Vorsitzenden.«

Horthy lacht behäbig. »Innere Sekretion! Sie, das ist wirklich gut! Aber Sie haben doch eine Meinung, nicht wahr?«

»Meine Meinung ist die eines uninformierten Bürgers und damit wertlos.«

Die Belustigung verliert sich auf Horthys Zügen und wird von Geringschätzung verdrängt. »Welch ein Diplomat Sie sind!«

»Beachten Sie ihn nicht«, bitter Donna Labile. »Er weiß einfach nicht, wann er aufhören muß. Zuerst stopft er sich mit diesen mongolischen Gerichten voll, und dann verwirrt er seinen Verstand mit Drogen, und jetzt riskiert er noch seine ganze Karriere…«

»Niemand wird daran denken, auf die Waagschale zu legen, was er nach einer solchen Nacht sagt«, versucht Schadrach sie zu beschwichtigen.

»Eine faule Ausrede«, sagt Horthy undeutlich. »Nichts als faule Ausreden, leere Versprechungen…« Seine Hände zittern, Schweißperlen werden auf dem fleischigen roten Gesicht sichtbar. Anscheinend beginnt bereits die Reaktion auf den Drogenrausch einzusetzen. »Grausamer, finsterer Unfug…« und er verliert sich in unverständliches ungarisches Gemurmel, das schließlich in ein Schluchzen übergeht. Donna Labile, erleichtert, daß er endlich Ruhe gibt, stützt ihn und redet begütigend auf ihn ein. Zwei hochgewachsene Männer in den graublauen Uniformen der Volksmiliz kommen über den Bahnsteig. Schadrach wundert sich, sie hier anzutreffen, denn Karakorum ist Spielwiese und Vergnügungsort der privilegierten Funktionärsklasse, natürlich elektronisch überwacht, aber sonst frei vom ernüchternden Anblick wachsamer Polizeistreifen. Diese zwei sehen wie chinesische Zwillinge aus, mit steifem, kurzgeschnittenem Haar und runden, ausdruckslosen Gesichtern. Damit nicht genug, bewegen sie sich im Gleichschritt, und ihre Stiefeltritte hallen bedrohlich durch die Station. Bei Horthy und seiner Frau bleiben sie stehen, legen die Finger salutierend an die Schirmmützen, und einer von ihnen sagt etwas. Schadrach weiß nicht, ob sie nur behilflich sein wollen, oder ob sie Auftrag haben, Horthy zu verhaften. Donna Labile wedelt mit zwei Karnevalsmasken, erklärt anscheinend, daß sie von einem Maskenball kommen. Einer der Milizionäre läßt sich Horthys Maske geben, betrachtet sie und hält sie Horthy prüfend vors Gesicht. Inzwischen ist der Zug in die Halle eingelaufen und hält. Die Uniformierten schieben die Arme sanft unter die Achseln des dicken Ungarn und bugsieren ihn in den Zug, gefolgt von der aufgeregt gestikulierenden Donna Labile.