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»… lang ersehnte Epoche der Gerechtigkeit und der vollen Entfaltung der schöpferischen Kraft des Menschen…«, dröhnt Mangus Stimme.

Die Überlebenden der nächtlichen Ausschweifungen in Karakorum steigen mit langsamen, schläfrigen Bewegungen in den wartenden Zug.

9

Ehe er sich in seine Räume zurückzieht, sucht Schadrach Mordechai den Vorsitzenden auf. Obgleich die Signalgeber ihm verraten, daß das Befinden des alten Mannes den Umständen entsprechend gut ist, fühlt er sich nach seiner Abwesenheit verpflichtet, den Patienten persönlich aufzusuchen. Es ist früh am Morgen, und Dschingis Khan II. Mao liegt in ruhigem Schlaf: der elektroenzephalographische Signalgeber in Mordechais Hüfte reflektiert die langsamen rhythmischen Ausschläge der friedlichen Deltawellen. Alle eingehenden telemetrischen Daten sind ermutigend. Blutdruck normal, beide Lungenflügel frei von Flüssigkeit, Temperatur wieder normal, Herztätigkeit kräftig, Galleproduktion einwandfrei. Die neue Leber hat sich offensichtlich bereits in den Organismus eingefügt und begonnen, die während der letzten Wochen eingetretenen Versäumnisse wiedergutzumachen. Die fahrbare Intensivstation ist mit all ihren Geräten im Schlafraum des Vorsitzenden aufgebaut und umgibt den alten Mann wie ein Kokon. Die biometrischen Ablesungen der unterstützenden Systeme bestätigen Schadrachs Ferndiagnose, daß der Patient sich über alles Erwarten wohl befindet. Die für den Notfall bereitgestellte Ausrüstung ist nicht benötigt worden, weder das Sauerstoffzelt noch die Elektrodialyse, die Herzlungenmaschine oder die übrigen Geräte. Der Neunzigjährige liegt entspannt, ein leichtes Lächeln auf den dünnen Lippen, nur sechzehn Stunden nach einem schweren chirurgischen Eingriff und schon annähernd stark genug, um die Bürde des Alltagslebens wieder auf sich zu nehmen. Freilich hat dieser Körper, so viele Male aus gesunden, entliehenen und künstlichen Teilen rekonstruiert, wenig mit dem eines gewöhnlichen Greises gemeinsam: wie ein Kannibalenhäuptling hat er sich vom Fleisch der Helden gemästet, und ihre Kräfte sind auf ihn übergegangen. Und außerdem ruht in diesem abgemagerten Schädel eine unerbittliche Unbeugsamkeit des Geistes, die keine körperliche Schwäche anerkennt. Der Arzt verweilt am Bett des Patienten und bewundert die zähe Konstitution seines Schützlings, rechnet beinahe damit, daß der alte Mann ihm plötzlich zuzwinkert, aber der Vorsitzende schläft fest.

Dann also ab ins eigene Bett. In Anbetracht dieses ausgezeichneten Zustands fühlt Schadrach sich berechtigt, auszuschlafen, bis er von selbst aufwacht, selbst wenn das erst am Nachmittag der Fall sein sollte. Er kleidet sich aus, besteigt seine Hängematte, streckt sich aus und entläßt das Bewußtsein aus dem Dienst.

Einige Stunden später wird er von einem inneren Stoß geweckt, der ihn fast aus der Hängematte wirft. Adrenalin schießt in seinen Blutkreislauf; das Herz beginnt heftig zu pochen, ein Zittern läuft durch den Körper, alle Systeme schalten auf die höchste Aktivität der Alarmreaktion. Sobald dieser erste Schreck abgeklungen ist, beginnt er automatisch mit der Diagnose, erwägt und verwirft in Sekundenschnelle Möglichkeiten wie Koronarthrombose, Gehirnblutung, Lungenödem; einen Augenblick später, als das donnernde Herzklopfen nachläßt und der Atem ruhiger zu gehen beginnt, wird ihm klar, daß nichts Ernsteres als ein Schock vorliegt, der zu einem klassischen Kampf-oder-FluchtSyndrom führt; und gleich darauf wird ihm bewußt, daß alles rein stellvertretend ist, daß ihm selbst überhaupt nichts fehlt, sondern daß über das telemetrische System, welches ihn mit dem Vorsitzenden verbindet, Signale einer starken Überbelastung ihn erreichen. Er springt aus der wild schwingenden Hängematte, tastet am Boden nach seiner gleichgültig umhergestreuten Kleidung. Er ist hellwach, aber sein Körper ist von den durch Überraschung und Schreck erzeugten hormonalen Ausschüttungen so gesättigt, daß seine Hände zittern und sein verwirrter Verstand unfähig ist, sich auf die einfache Aufgabe des Ankleidens zu konzentrieren. Hat das lebenserhaltende System der Intensivstation versagt? Sind Attentäter ins Schlafzimmer des Vorsitzenden eingedrungen? Der alte Mann lebt noch — die telemetrischen Signale lassen keinen Zweifel daran zu —, und was immer ihm einen so ernsten Schock versetzte, scheint bereits vorüber zu sein, denn seine physiologischen Funktionen normalisieren sich allmählich, obgleich deutliche Anzeichen für andauernde nervöse Reizbarkeit und damit verbundene vasomotorische und kardiovaskuläre Erschöpfungszustände sprechen.

Nur mit seiner Hose bekleidet und mit noch immer schlotternden Knien — in all den Jahren, die er nun schon seine eingepflanzten Signalgeber mit sich trägt, haben die Signale vom Vorsitzenden niemals eine solche Wirkung auf ihn gehabt —, nähert er sich der Sperre. »Schadrach Mordechai zum Vorsitzenden«, sagt er und wartet, und fast eine Minute lang geschieht nichts. Er wiederholt den Satz in dringenderem Ton, doch die Tür bleibt verschlossen. »Los, aufmachen!« schnauft er aufgeregt. »Der Vorsitzende liegt vielleicht im Sterben. Ich muß zu ihm!«

Nichts geschieht, obwohl die elektronischen Kontrollvorrichtungen intakt zu sein scheinen. Schadrach begreift, daß das Sperrsystem auf Notstand umgeschaltet worden ist und den Personenverkehr zu den Räumen des Vorsitzenden noch genauer als üblich kontrolliert. Dies spricht für die Hypothese eines Attentatsversuchs. Schadrach brüllt, gestikuliert, schlägt mit den Fäusten gegen die Sperre, schneidet ihr sogar Grimassen; doch das Sicherheitssystem ist offenkundig mit anderen Angelegenheiten beschäftigt und läßt ihn nicht ein. Bis die Tür sich endlich öffnet, sind nach seiner Schätzung vier oder fünf Minuten verstrichen. Die vom Vorsitzenden eintreffenden Daten bleiben wenigstens konstant; sie zeigen an, daß er weiterhin beunruhigt und übermäßig erregt ist, sich aber vom ersten Schreck erholt hat.

Zu seinem Verdruß wird Schadrach in der Diele noch einmal von Leibwächtern aufgehalten und kontrolliert, bevor er das Schlafzimmer des Vorsitzenden betreten darf. Wie er zur Tür hereinstürzt, sieht er Dschingis Khan II. Mao aufrecht im Bett sitzen, umringt von fünf oder sechs Dienern und einem Dutzend Persönlichkeiten aus Revolutionsrat und Beraterstab. Alle drängen in heller Aufregung durcheinander und verursachen eine allgemeine Unruhe, die der Genesung des Vorsitzenden gerade in dieser postoperativen Phase sehr abträglich ist. Unter den Anwesenden sieht Schadrach Gonchigdorge, Ionigylakis, Sicherheitschef Avogadro und sogar Bela Horthy, der nach seiner ausschweifenden Nacht in Karakorum schrecklich fahl und verkatert aussieht. Weitere Personen aus der Umgebung des Vorsitzenden und des Revolutionsrates treffen in nicht abreißender Folge ein. Viele sind offenbar wie Schadrach selbst aus dem Schlaf gerissen worden und nur teilweise bekleidet. Schadrach ist bestürzt. Er kann die klare aber schwache Stimme des alten Mannes durch den allgemeinen Lärm hören, aber das Bett ist so umlagert, daß er nicht zu seinem Patienten durchdringen kann.

»Schrecklich, wirklich schrecklich«, sagt Ionigylakis und bewegt den Kopf wie ein verwundeter Bär bedächtig von einer Seite zur anderen.

Schadrach wendet sich ihm zu. »Was ist passiert?«

»Mangu«, sagt Ionigylakis. »Ermordet!«