»Was? Wie?«
»Aus dem Fenster. Oder vom Balkon.« Der schwerfällige Grieche spielt ihm mit ausholenden Armbewegungen eine Pantomime des Geschehens vor, wie er es sich vorstellt: das offene Fenster, die in der Nachtbrise wehenden Vorhänge, den hinausgestürzten, sich im Fallen langsam überschlagenden Körper, das abrupte und gräßliche Ende des Sturzes auf den Steinplatten des Platzes. Schadrach schaudert zusammen. »Wann war das?«
»Vor zehn, fünfzehn Minuten. Horthy kam gerade über den Platz. Er sah den ganzen Vorgang.«
»Wer verständigte den Vorsitzenden? Horthy?«
Ionigylakis zuckt die Achseln. »Wie sollte ich das wissen?«
»Man hätte damit warten sollen. Der Schock einer solchen Nachricht…«
»Ich war gerade in mein Büro gekommen, als ich davon hörte. Die Leute rannten wie verrückt durch das Haus. Zuerst zu den Fenstern, dann alle hier herein.«
»Was noch verrückter ist«, sagt Schadrach verdrießlich. »Was wollen sie hier? Bringen Lärm und Unruhe herein, regen den Vorsitzenden unnötig auf, erfüllen das Krankenzimmer mit ansteckenden Bakterien — hat denn niemand einen Funken Vernunft? Mit diesem Chaos gefährden wir nur sein Leben. Helfen Sie mir, das Zimmer zu räumen.«
»Aber der Vorsitzende hat selbst nach diesen Leuten geschickt!«.
»Spielt keine Rolle. Er braucht sie nicht alle. Ich bin verantwortlich für seine Gesundheit, und ich verlange, daß alle hinausgehen, ausgenommen vielleicht Avogadro, Gonchigdorge und vielleicht Eyuboglu.«
»Aber…«
»Keine Aber. Sie und alle anderen sollten an ihre Arbeitsplätze oder in ihre Wohnungen zurückkehren, sich, wenn nötig, fertig ankleiden und bereithalten, falls Sie gebraucht werden. Was, wenn dies der Anfang eines Putschversuchs wäre? Oder, schlimmer noch, einer weltweiten, konterrevolutionären Erhebung? Wer soll die Krise meistern, wenn alle hier drinnen kopflos durcheinanderlaufen? Kommen Sie, helfen Sie mir, ich möchte das Zi mmer räumen. Schaffen Sie alle hinaus, bitte.«
Ionigylakis scheint noch nicht ganz überzeugt, doch nach kurzem Zögern nickt er und beginnt die Anwesenden mit lauter Stimme zum Gehen aufzufordern und energisch zur Tür zu drängen, während Schadrach die Aufmerksamkeit des Sicherheitschefs gewinnt und ihm rät, ein paar Leute in der Diele zu postieren, damit sie ungebetene Besucher fernhalten.
Dann tritt er ans Bett. Der Vorsitzende sieht verkniffen und angespannt aus, seine Stirn ist feucht und glänzt, die Hautfarbe fahl und grau. Er atmet schnell und leicht, und die immer ruhelosen Augen blicken mit manischer Intensität hierhin und dorthin. Die lebenserhaltenden Systeme haben sich selbsttätig eingeschaltet und flößen dem Patienten Glukose, Natriumchlorid und Blutplasma ein. Schadrach überprüft hastig die Ablesungen der Instrumente und integriert sie in seine telemetrischen Signale, schätzt die Anteile von Kalium und Magnesium im Blut, die Durchlässigkeit der Blutgefäße, das Ausmaß der arteriellen Verengung und nimmt manuelle Veränderungen der Einzeldosen vor. »Versuchen Sie sich zu entspannen«, sagt er. »Lehnen Sie sich zurück. Lassen Sie Arme und Beine erschlaffen.«
»Sie haben ihn umgebracht«, sagt der Vorsitzende heiser. »Haben Sie gehört? Man hat ihn aus dem Fenster gestoßen.«
»Ja, ich weiß. Bitte, lehnen Sie sich zurück. Legen Sie den Kopf auf das Kissen.«
»Die Mörder müssen noch irgendwo im Gebäude sein. Ich werde die Nachforschungen selbst leiten. Fahren Sie mich in Kontrollraum 1, Doktor.«
»Das wird nicht möglich sein. Sie werden hier bleiben müssen.«
»Reden Sie nicht so mit mir. Avogado! Helfen Sie mir in den Rollstuhl!«
»Tut mir leid, Herr Vorsitzender«, murmelt Schadrach, während er hinter dem Rücken heftig zu Avogadro signalisiert, er solle den Befehl des alten Mannes ignorieren. Zur gleichen Zeit drückt er unbemerkt ein Pedal nieder, das eine Flut von beruhigendem Pordenone 9 in den Körper des Vorsitzenden einströmen läßt. »Das Verlassen des Bettes zu diesem Zeitpunkt könnte tödlich für Sie werden«, sagt er in beschwörendem Ton. »Verstehen Sie mich? Es könnte Sie töten.«
Der alte Mann versteht. Er läßt sich ins Kissen zurücksinken und sieht beinahe erleichtert aus, daß man ihn überstimmt hat; und als das Beruhigungsmittel zu wirken beginnt, entspannen sich seine Züge, und sein Verhalten wird zunehmend friedfertiger. Schadrach begreift, daß der Patient viel schwächer ist, als die Instrumente verraten. »Sie haben ihn umgebracht«, sagt der Alte wieder, doch nun klingt es sinnend, grüblerisch. »Ein überall beliebter Mann, und sie haben ihn umgebracht. Er hatte keine Feinde.« Und zu Schadrachs Verblüffung beginnen die ledrigen alten Lippen zu zucken, und die Augen füllen sich mit Tränen.
Wie? Was hat das zu bedeuten? Eine Schaustellung echter Gefühle? Ein Anflug von väterlichem Kummer? Aber wie ist das möglich, bedenkt man das freudlose Schicksal, das er selbst seinem Nachfolger zugedacht hatte? Entweder hat der chirurgische Eingriff den alten Mann so geschwächt, daß er uncharakteristisch sentimental geworden und plötzlich in eine kaum vorstellbare Senilität abgeglitten ist, oder Schadrach mißdeutet die Zeichen: nicht Kummer, sondern Furcht, die Erkenntnis persönlicher Gefährdung, das Bewußtsein, daß Attentäter, wenn sie in den Regierungspalast gelangen und Mangu erreichen konnten, durchaus auch einen Weg in die Räume des Vorsitzenden finden könnten. Das muß es sein. Der alte Mann ist zornig und fürchtet sich, aber weil die Operation ihn körperlich so geschwächt hat, nehmen diese Gemütsbewegungen momentan die Form von Kummer an.
Und in der Tat, nach wenigen Augenblicken wird Dschingis Khan II. Mao wieder ruhig und sagt mit leiser, leidlich beherzter Stimme: »Das ist der erste erfolgreiche Angriff auf unser politisches System. Es ist ein beispielloser Anschlag, der in Wahrheit den Errungenschaften und der Kontinuität unserer Revolution gilt, und darum muß ihm mit Kraft und Entschiedenheit begegnet werden, um zu demo nstrieren, daß die Revolution nichts von ihrer kämpferischen Entschlossenheit eingebüßt hat und jeden Versuch der verfaulten alten Bourgeoisie und ihrer reaktionären Handlanger, die Herrschaft des Volkes zu unterminieren und das Rad der Geschichte zurückzudrehen, im Keim ersticken wird.«
Er winkt Avogrado ans Bett und beginnt Pläne für Massenverhaftungen, Verhöre mutmaßlicher Regimegegner, verschärfte Sicherheitsmaßnahmen in Ulan Bator und um das Regierungsviertel zu erörtern. Er verhält sich nicht wie ein Mann, der von einem Verlust betroffen wurde, sondern wie ein Despot, der sich und seine Herrschaft bedroht sieht. Es wird nur allzu rasch deutlich, daß Mangus Verlust ihn persönlich wenig oder nichts bedeutet. Er sieht in dem Ereignis nur ein böses Omen für sich selbst und seine Machtposition.
Inmitten dieser grimmigen Pläne blickt der Vorsitzende plötzlich zu Schadrach auf, als sehe er ihn zum ersten Mal, und sagt liebenswürdig: »Sie haben nichts als Ihre Hose an, Doktor. Warum das?«
»Ich kam in größter Eile hierher. Die eingepflanzten Empfänger weckten mich mit einem solchen Schlag, daß ich sofort wußte, es müsse etwas geschehen sein.«
»Ja. Als Horthy mir die Nachricht von dem Attentat brachte, geriet ich in große Erregung.«
»Aber dann mußte ich fünf Minuten vor der Sperre warten, bevor ich eingelassen wurde. Wir sollten das ändern. Eines Tages könnte es in einer kritischen Situation darauf ankommen, daß ich Sie rechtzeitig erreiche, und wenn die Sperre mich dann wieder aufhält, wird es unter Umständen zu spät sein.«
»Hmm. Wir werden noch darüber reden.« Der alte Mann beäugt Schadrachs nackten Oberkörper mit einiger Belustigung und, wie es scheint, Bewunderung, betrachtet die kräftig ausgebildeten Bauchmuskeln, die sehnigen Arme, die kräftigen breiten Schultern. Schadrach weiß, daß er einen schönen Körper hat, einen athletischen und anmutigen Körper, bedeckt mit glatter schokoladenfarbener Haut, der sich seit den Tagen vor annähernd zwanzig Jahren, als er ein respektabler Leichtathlet war, nicht viel verändert hat. Dennoch ist in dieser eingehenden Inspektion durch den alten Mongolen etwas Entnervendes. Nach einem Moment sagt der Vorsitzende beinahe erheitert: »Sie sehen sehr gesund aus, Mordechai.«