»Ich versuche in Form zu bleiben.«
»Dann sind Sie ein kluger Arzt. Viele Männer Ihres Berufs kümmern sich um jedermanns Gesundheit, nur nicht um die eigene. Aber warum waren Sie um diese Zeit noch im Bett?«
»Ich war diese Nacht in Karakorum«, bekennt Schadrach.
Der Alte lacht heiser auf. »Liederlichkeit! Ausschweifung! Versuchen Sie sich damit in Form zu halten?«
»Nun, ich…«
Der Vorsitzende winkt ab. »Lassen Sie nur, Doktor. Es ist nicht mein Ernst.« Seine Stimmung hat in diesen wenigen Minuten einen erstaunlichen Wandel erfahren. Dieses Scherzen, diese Neckerei — es ist schwer zu glauben, daß er vor Minuten noch um den toten Mangu weinte. »Sie können gehen und sich ein Hemd anziehen, wenn Sie wollen. Ich denke, ich kann Sie für ein paar Minuten entbehren.«
»Ich würde es vorziehen, noch eine Weile zu bleiben«, antwortet Schadrach. »Mir ist nicht kalt.«
»Wie Sie wollen.« Der Vorsitzende scheint das Interesse an ihm zu verlieren. Er wendet sich wieder Avogadro zu, um die Beratung über Verfolgungs- und Repressionsmaßnahmen fortzusetzen. Dann, nachdem er den Sicherheitschef entlassen hat, ruft er Eyuboglu zu sich und umreißt mit wenigen Stichworten ein Programm zur Kanonisierung des toten Mangu als eines Freiheitskämpfers und Helden der Revolution: ein kolossales Staatsbegräbnis, eine verlängerte Periode öffentlicher Trauer, die Umbenennung von Städten, bedeutenden Plätzen und Straßen, die Errichtung von Standbildern in jeder bedeutenderen nationalen Hauptstadt.
Warum? fragt sich Schadrach. Alles das für einen Mann, dessen große Leistungen allenfalls in der Zukunft zu erwarten gewesen wären? Der Aufwand an Energie und öffentlichen Mitteln wäre eines Halbgotts würdig, eines Cäsar, eines Augustus, eines Herakles oder Siegfried. Warum? Warum, wenn dieser Mangu nicht eine symbolische Fortsetzung Dschingis Khan II. Mao selbst gewesen wäre, sein Bindeglied zur Zukunft, seine Hoffnung körperlicher Reinkarnation? Ja, denkt Schadrach. Indem er diese grotesk aufgeblähten Trauerfeierlichkeiten für den Ermordeten befiehlt, muß der alte Mann nicht Mangu, sondern sich selbst betrauern.
10
Aber wurde Mangu wirklich ermordet? Avogadro, der in der Diele auf ihn wartet, als der Arzt seinen Schutzbefohlenen verläßt, scheint das nicht für eine ausgemachte Sache zu halten. Der Sicherheitschef, ein grobknochiger, schwerer Mann mit wachem Verstand, kühlen Augen und einem breiten, spöttischen Mund, nimmt Schadrach in der Nähe des Ausgangs beiseite und fragt mit gedämpfter Stimme: »Steht er unter dem Einfluß irgendwelcher Medikamente, die einen labilen Geisteszustand bewirken könnten?«
»Eigentlich nicht. Ich habe ihm ein Beruhigungsmittel gegeben, weiter nichts. Warum?«
»Nein, ich meine vorher.«
»Vorher hat er ruhig geschlafen. Nach dem Eingriff gab es keinerlei Komplikationen, die eine gesonderte Behandlung notwendig gemacht hätten.«
»Ich habe ihn noch nie so verwirrt und aufgeregt gesehen.«
»Nun, es ist auch das erste Mal, daß sein Stellvertreter ermordet wurde.«
»Was verleitet Sie zu der Annahme, es habe einen Mordanschlag gegeben?«
»Weil ich — weil Ionigylakis es sagte —, weil der Vorsitzende selbst von einem Attentat sprach.« Schadrach hält konfus inne. »War es kein Attentat?«
»Wer weiß? Horthy sagt, er habe Mangu aus dem Fenster fallen sehen. Er sah niemanden, der ihn stieß. Wir haben bereits alle Kontrollsysteme überprüft, und es gibt keine Hinweise darauf, daß unbefugte Personen in der vergangenen Nacht oder heute früh den Gebäudekomplex betreten oder verlassen hätten.«
»Vielleicht hatten die Attentäter sich schon gestern eingeschlichen und über Nacht hier versteckt«, meint Schadrach.
Avogadro seufzt. Seine Augen zeigen einen Ausdruck von Erheiterung. »Ersparen Sie mir den Amateurdetektiv, Doktor. Natürlich haben wir auch die gestrigen Aufzeichnungen überprüft.«
»Es täte mir leid, wenn ich…«
»Ich wollte nicht sarkastisch sein. Ich weise nur darauf hin, daß wir die meisten der offensichtlichen Möglichkeiten berücksichtigt haben. Für einen Meuchelmörder ist es nicht einfach, in dieses Gebäude zu gelangen, und ich glaube nicht ernstlich, daß es sich so verhält. Selbstverständlich scheidet damit noch nicht die Möglichkeit aus, daß Mangu von jemandem aus dem Fenster gestoßen wurde, dessen Anwesenheit im Gebäude nicht ungewöhnlich erscheinen würde, wie zum Beispiel Gonchigdorge, Sie, oder ich…«
»Oder der Vorsitzende«, sagte Schadrach lächelnd. »Er kam auf Zehenspitzen vom Bett hergeschlichen und stieß Mangu durch das Fenster.«
»Sie haben mich verstanden. Was ich sagen will, ist, daß jeder hier oben Mangu getötet haben könnte. Nur daß es keinen Beweis dafür gibt. Sie wissen selbst, daß niemand hier oben durch eine Tür gehen kann, ohne daß es elektronisch registriert wird. Daher kann ich sagen, daß heute früh niemand in Mangus Wohnung gegangen ist, weder auf der Seite der Sperre, noch von der Aufzugseite. Der Letzte, der die Wohnung betrat, war Mangu selbst, ungefähr um Mitternacht. Die Untersuchungen sind natürlich noch nicht abgeschlossen, aber bisher konnten wir keine Spuren von Eindringlingen im Schlafzimmer feststellen, keine fremden Fingerabdrücke, keine Anzeichen eines Kampfes. Mangu war ein sehr kräftiger Mann, müssen Sie wissen. Nicht leicht zu überwältigen.«
»Deuten Sie damit an, daß es möglicherweise Selbstmord war?« fragt Schadrach.
»Ja, das vermute ich. In diesem Stadium der Untersuchung nehmen meine Leute keine andere Theorie mehr ernst. Aber der Vorsitzende ist überzeugt, daß es ein Mordanschlag war, und Sie hätten ihn sehen sollen, bevor Sie herkamen. Wildblikkend, in hysterischer Raserei. Sie können sich denken, daß es für mich und meine Männer nicht gut aussieht, wenn er glaubt, es habe einen Mordanschlag gegeben. Unsere Aufgabe besteht ja gerade darin, Attentate hier im Bereich des Regierungsviertels unmöglich zu machen. Aber es geht nicht allein darum, ob ich meinen Posten verliere oder nicht, Doktor. Da ist diese ganze fantastische Säuberungsaktion, die er anlaufen läßt, die Verhaftungen, die Verhöre und verschärften Sicherheitsmaßnahmen, eine enorm unangenehme und kostspielige Angelegenheit, und, soweit ich sehen kann, absolut nutzlos. Was ich wissen möchte«, sagt Avogadro, »ist, ob Sie meinen, daß der Vorsitzende im weiteren Verlauf seiner Genesung möglicherweise bereit sein wird, eine vernünftigere Haltung zu Mangus Tod einzunehmen.«
»Schwer zu sagen. Aber ich glaube es nicht. Ich habe nie erlebt, daß er seine Meinung über etwas geändert hätte.«
»Aber die Operation…«
»Hat ihn geschwächt, gewiß. Körperlich und geistig. Aber soweit ich es beurteilen kann, hat sie weder seinen Verstand noch seine Denkweise in irgendeiner Form beeinflußt. Diese Ideen von mö glichen Gefahren durch Meuchelmörder und Attentäter sind bei ihm nichts Neues, und offenbar vermutet er, daß Mangu ermordet wurde, weil die Vorstellung irgendein inneres Bedürfnis befriedigt, einer dunklen und verschlungenen Fantasieprojektion entgegenkommt. Ich denke, er hätte aus Mangus Tod die gleiche Schlußfolgerung gezogen, wenn er zu dem Zeitpunkt bei bester Gesundheit gewesen wäre. Seine Genesung wird, für sich selbst genommen, kein Faktor sein, der ihn zu einer Neueinschätzung des Vorfalls bewegen könnte. Ich kann Ihnen nur den Vorschlag machen, daß Sie drei oder vier Tage warten, bis er hinreichend erholt ist, um seine Pflichten wieder wahrzunehmen, und dann mit den Ergebnissen Ihrer Nachforschungen zu ihm zu gehen und schlüssig zu beweisen, daß es keinerlei Anhaltspunkte für einen Mord gibt. Und dann müssen wir darauf hoffen, daß sein gesunder Menschenverstand ihn allmählich zu dem Sichabfinden mit der Tatsache des Selbstmords führen wird.«