Ionigylakis, der den Schluß offenbar mitangehört hat, tritt zu ihnen und ergreift ungefragt das Wort. »Das ist seltsam. Wenn jemand ihn gerade aus dem Fenster gestoßen hatte, warum sollte er dann gelächelt haben?«
Schadrach schüttelt den Kopf. »Ich bezweifle, daß er kurz vor dem Aufprall lächelte. Dieser Ausdruck entstand wahrscheinlich ungewollt durch die Fallbeschleunigung und die Erwartung des Todes.«
»Vielleicht«, sagt Horthy geheimnisvoll. »Vielleicht auch nicht.«
»Fahren Sie fort«, sagt Schadrach. »Sie informierten den Vorsitzenden vom Fenstersturz Magnus. Was geschah dann?«
»Er setzte sich mit einem Ruck aufrecht. Zuerst dachte ich, er würde die Schlauchleitungen und die medizinischen Kontrollgeräte an und um ihn dabei losreißen. Er bekam ein rotes Gesicht und begann zu schwitzen. Ich hörte ihn keuchen und nach Luft schnappen. Es war ein schlimmer Augenblick, Doktor Mordechai. Ich befürchtete, er werde vor Aufregung sterben. Dann fing er an mit den Armen zu fuchteln und etwas über Attentäter zu rufen. Dann fiel er plötzlich in das Kissen zurück und griff sich an die Brust…«
»Sie dachten, er werde an der Aufregung sterben«, sagt Schadrach, »aber vorher kam es Ihnen keinen Augenblick in den Sinn, daß es unklug sein könnte, ihn bei seinem Gesundheitszustand mit derartigen Nachrichten zu beunruhigen.«
»In einer solchen Situation denkt man nicht klar.«
»Man sollte es aber tun, wenn man in einer verantwortlichen Position ist.«
»Man urteilt nicht immer unter Abwägung aller Gesichtspunkte«, versetzt Horthy. »Schon gar nicht, wenn man ein paar Minuten vorher beinahe vom Körper eines herabstürzenden Menschen erschlagen worden wäre. Und wenn man erkennt, daß der Tote eine wichtige Figur in der Regierung ist, tatsächlich sogar der stellvertretende Vorsitzende, dann ist ein solches Versagen der Urteilskraft wohl entschuldbar. Und wenn man darüber hinaus argwöhnt, daß der Tod dieses Mannes auf einen Mordanschlag zurückzuführen sein mag, und daß dieses Attentat den Beginn eines konterrevolutionären Aufstands signalisieren könnte…«
»Schon gut, schon gut«, sagt Schadrach. »Er hat den unnötigen Schock überlebt. Aber was Sie taten, Horthy, war äußerst riskant. Schlimmer noch, es war dumm.« Er runzelt die Stirn. »Sie meinen, es gebe eine Verschwörung, wie?«
»Ich habe keine Ahnung. Aber es ist eine Möglichkeit, nicht wahr?«
»Das gilt auch für Selbstmord.«
»Glauben Sie, daß es Selbstmord war, Doktor?« fragt Ionigylakis.
»Avogadro glaubt es, und er muß es wissen.«
»Aber Avogadros Leute haben Buckmaster festgenommen.«
»Ich habe es gehört. Armer, verrückter Teufel. Ich bedaure ihn.«
Gonchigdorge reagiert sich noch immer am Schaltpult ab. Donna Labile kommt von der anderen Seite in den Raum und ruft Horthy, der Schadrach einen frostigen, vielleicht warnenden Blick zuwirft und fortgeht. Schadrach wird aus dem Mann nicht schlau, aber auf einmal scheint es ihm nicht mehr wichtig. Nichts erscheint ihm wichtig. Dieser Raum, worin er mit bloßem Oberkörper ein wenig fröstelnd herumsteht, benommen von der Aktivität ringsum wie von den Ereignissen der letzten Stunden, kommt ihm wie ein Tollhaus vor. Er fühlt sich dieser Umgebung nicht zugehörig. Plötzlich zeigen mehrere Bildschirme gleichzeitig ein wild tanzendes Zackenmuster in Blau, Grün und Rot. Gonchigdorge hat bei seiner plumpen Fahndung nach Verschwörern irgend etwas beschädigt. »Cifolia!« schreit er in den Raum. »Rufen Sie Franco Cifolia herauf! Die Anlage muß repariert werden!«
Cifolia ist bereits anwesend. Halblaute Verwünschungen auf den Lippen, drängt er sich durch die Menge zum Bedienungspult. Als er an Schadrach vorbeikommt, murmelt er: »Ihr Freund Buckmaster ist schon im Vernehmungszimmer. Ich nehme an, Sie werden nicht darüber weinen.«
»Im Gegenteil. Buckmaster war nicht bei Sinnen, als er heute nacht über mich herzog. Und nun muß er dafür bezahlen.«
»Wie ich höre, wird Avogadro selbst das Verhör führen.«
»Avogadro glaubt, daß es Selbstmord war.«
»Ich auch«, sagt Cifolia und arbeitet sich weiter.
Schadrach hat genug. Er geht zum Ausgang und stellt sich der Elektronik zur Überprüfung. Während er auf Durchlaß wartet, blickt er zurück auf das Durcheinander, die flackernden Bildstörungen auf den Mattscheiben, sieht Gonchigdorge wie ein zorniges Kind toben, Horthy und Donna Labile in ein mysteriöses Gespräch vertieft, das sie mit heftigen italienisch-magyarischen Gestikulationen begleiten, Ionigylakis mit dröhnender Stimme seine Ahnungslosigkeit und Verwirrung bekennen, Franco Cifolia vor einer abgenommenen Verkleidung kauern und mit einem Schraubenzieher zwischen den turbulenten bunten Spaghetti Tausender von Schaltkreisen stochern. Während Avogadro, der nicht an einen Mord glaubt, irgendwo in den Tiefen dieses großen Gebäudekomplexes nichtsdestoweniger Anstalten trifft, Roger Buckmaster dem peinlichen Verhör zu unterziehen, obgleich Buckmaster mit großer Wahrscheinlichkeit unschuldig ist, weil er an diesem Morgen kaum imstande gewesen sein konnte, jemanden umzubringen. Und im Schlafzimmer des Vorsitzenden liegt unterdessen dieser uralte Mann, der seinen nahezu tödlichen Schock so gut wie überwunden hat, zwischen Schlauchleitungen und Meßgeräten im Bett und plant mit verrückter Hingabe, wie er die Erinnerung an den hingeschiedenen Stellvertreter am besten heiligen und wie er seine mutmaßlichen Mörder zerstören kann. Genug, mehr als genug: zuviel. Die Sperre öffnet sich vor ihm, läßt ihn durch, und er kehrt eilig in seine Wohnung zurück.
Wie friedlich es hier ist! Während seiner Abwesenheit ist Nicki Crowfoot gekommen und erwartet ihn im Wohnzimmer. Sie ist frisch gewaschen und hat von der Dusche noch feuchtes Haar, sieht aber übernächtig und matt aus. »Nachdem ich heute sowieso zu spät ins Labor komme«, sagt sie lächelnd, »habe ich unterwegs bei dir hereingeschaut.« Ihr Gesichtsausdruck verändert sich, und sie sieht ihn fragend an. »Aber wo kommst du her? Warum bist du halb angezogen? Was ist geschehen?«
»Alles. Mangu ist tot, den Vorsitzenden traf beinahe der Schlag, als er es erfuhr; Buckmaster ist verhaftet worden, eine allgemeine Säuberungswelle gegen unzuverlässige Elemente läuft an, Horthy ist…«
»Warte!« ruft sie und springt auf. »Tot? Mangu? Wie?«
»Fiel aus dem Fenster. Sprang oder wurde gestoßen.«
»Oh!« Sie erbleicht. »O Gott. Wann war das?«
»Vor vielleicht einer halben Stunde.«
Sie beißt mit den kräftigen Vorderzähnen in die Unterlippe und beginnt im Zimmer auf und ab zu wandern, den Blick angestrengt auf den Fußboden gerichtet. Nach einer Weile bleibt sie stehen, sieht ihn an und fragt: »Aus welchem Fenster?«
»Seinem eigenen, natürlich«, sagt er verdutzt. »Dem Schlafzimmerfenster, soviel ich weiß.«
»Von oben also«, murmelt sie kopfschüttelnd. »Dann muß sein Körper zerschmettert worden sein.«
»Das ist anzunehmen. Aber was…«
»Ach, Schadrach! Mein Projekt!«
»Was ist damit?«
»Ich weiß, es hört sich unmenschlich an, aber was soll jetzt aus meinem Projekt werden? Ohne Mangu…«
»Ach«, sagte er stumpfsinnig. »Daran habe ich nicht gedacht.«
»Du weißt, er war vorgesehen, um als…«
»Ja. Sag es nicht.«
»Es ist schlecht von mir, diese Reaktion zu haben«, murmelt sie.
»War das ganze Projekt auf Mangu als den einzigen und spezifischen Empfänger abgestellt?«
»Nicht unbedingt. Aber… ich verstehe das nicht. Wer sollte ein Interesse daran gehabt haben, Mangu umzubringen? Was geht vor? Glaubst du, daß es einen Aufstand geben wird, Schadrach?«
»Mangu könnte Mangu umgebracht haben«, sagt er ihr. »Bis jetzt weiß niemand Genaueres. Avogadros Leute entdeckten keinerlei Anzeichen von fremden Eindringlingen in seiner Wohnung.«