»Trotzdem haben sie Buckmaster verhaftet?«
»Wegen des Unsinns, den er letzte Nacht in Karakorum von sich gab, nehme ich an. Aber sie haben Horthy nicht verhaftet, der genauso aufrührerisches Zeug faselte. Horthy war derjenige, der dem Vorsitzenden die Nachricht von Mangus Tod brachte. Viel fehlte nicht, und er hätte den alten Mann durch den Schock getötet.«
Nicki blickte nachdenklich auf und sagt: »Wer weiß, vielleicht bezweckte er genau das.«
11
Die Lage beruhigte sich. Die Botschaften aus dem Innern des Vorsitzenden lassen erkennen, daß die Krise vorüber ist. Die Heilung schreitet voran, und die Aufregungen des Morgens werden keine ernsten Folgen haben. Schadrach aber fühlt sich wurzellos, desorientiert. Die Anspannung der Operation, die Nacht in Karakorum, zuwenig Schlaf und das Durcheinander nach Mangus Tod haben ihn erschöpft und seinen Geist umnebelt. Aber er wird den Tag irgendwie durchstehen.
Nach dem zweiten Vormittagsbesuch beim Vorsitzenden geht er in die Vorhalle und sieht sich um. Es ist ruhig geworden; die hohen Tiere haben sich wieder ihren Geschäften zugewandt, und nur drei niedrige Chargen halten Wache, ein junger chinesischer Offizier der Volksmiliz und ein paar von Avogadros Leutnants. Schadrach hat kein Verlangen, in den Bereich des Revolutionsrates einzudringen und sich die Diskussionen anzuhören, und kehrt durch das Büro und den kleinen Speisesaal des Vorsitzenden in seine Wohnung zurück. Wie immer ist es tröstlich, zwischen den vertrauten Dingen zu sein, den Büchern, seiner Sammlung medizinischer Instrumente. Er schlendert zwischen den Regalen und Vitrinen und fühlt, wie sein Inneres allmählich zur Ruhe kommt. Er nimmt eine chirurgische Zange von der Form einer ellenlangen Pinzette zur Hand, die einmal zum Öffnen von Wunden diente. Denkt an Mangu, wie er zerschmettert auf den Terrazzoplatten liegt; verbannt den Gedanken. Betrachtet die einem Fuchsschwanz ähnliche Säge, mit der irgendein Chirurg des achtzehnten Jahrhunderts Amputationen vornahm. Denkt an Dschingis Khan II. Mao, wie er mit zornrotem Gesicht und einem bösen Glanz in den kleinen schwarzen Augen Massenverhaftungen befiehlt. Fragt sich, ob Massenexekutionen der nächste Schritt sein werden. Streichelt eine anatomische Puppe aus dem Bologna des fünfzehnten Jahrhunderts, einen eleganten Homunkulus aus Elfenbein. Der vordere Teil des Rump fes ist abnehmbar und gibt den Blick auf kleine, sehr sorgfältig gearbeitete innere Organe frei: Herz, Lunge, Leber, die Eingeweide, und im Uterus kauert sogar ein Embryo wie ein Kängurujunges im Beutel. Und die Bücher, ja, die kostbaren, muffig riechenden Bücher, früher im Besitz berühmter Ärzte aus Wien, London, Paris. Valesco de Tarantas Philonium Pharmaceuticum et Cheirurgicum von 1509. Martin Schurigs Gynaecologia Historico-Medica von 1730, reich ausgestattet mit Einzelheiten über Defloration, Ausschweifungen, penis captivus und andere Wunder. Hier ist Die Cellularpathologie Rudolf Virchows von 1852, worin er propagiert, daß jeder lebende Organismus ein Zellenstaat sei, in dem jede einzelne Zelle ein Bürger ist, daß eine Krankheit ein Konflikt von Bürgern in diesem Staat sei, hervorgerufen durch die Einwirkung äußerer Kräfte. Aux armes, citoyens! Was hätte Virchow über verpflanzte Lebern und Lungen gesagt? Wahrscheinlich hätte er sie gedungene Söldner genannt: die Hessen der medizinischen Metapher. Wenigstens wird in den Zellkriegen fair gekämpft; da gibt es keine heimlichen Fensterstürze, keine Heckenschützen am Rand der Unterführung. Und dieses mächtige Buch: Grootdorn, Iconographia Medicalis, prächtige alte Kupferstiche — hier sind, in einer Darstellung aus dem sechzehnten Jahrhundert, die Heiligen Cosmas und Damian zu sehen, wie sie das Bein des toten Mohren auf den Stumpf des Krebsopfers verpflanzen. Prophetie. Eine Verpflanzung etwa um 500 n. Chr. posthum ausgeführt von den heiligmäßigen Chirurgen. Sollte ich jemals noch so einen Stich auftreiben, denkt Schadrach, werde ich ihn Warhaftig schenken.
Er verbringt eine halbe Stunde damit, die Krankenakte des Vorsitzenden auf den neuesten Stand zu bringen, diktiert einen Bericht über die Leberoperation und erwähnt den starken Erregungszustand des Patienten bei der Nachricht vom Tod des Stellvertreters. Eines Tages wird die Krankengeschichte Dschingis Khans II. Mao zu den medizinischen Klassikern gehören und in einem Atemzug mit dem Smith-Papyrus und der Fabrica genannt werden, und er müht sich gewissenhaft damit ab, um seinen Platz in der Geschichte seiner Kunst vorzubereiten. Gerade als er die Eintragung beendet hat, ruft Katja Lindman an.
»Kannst du zum Talos-Labor herunterkommen?« fragt sie. »Ich möchte dir unsere neueste Errungenschaft zeigen.«
»Ja, das interessiert mich. Hast du das mit Mangu gehört?«
»Natürlich.«
»Es scheint dich nicht sehr zu beunruhigen.«
»Warum sollte es das tun? Was war Mangu für uns hier? Er war die meiste Zeit abwesend. Jetzt ist die Abwesenheit abwesend. Sein Tod war ein größeres Ereignis als seine ganze Existenz.«
»Ich glaube, du tust ihm unrecht«, widerspricht er. »Er wäre einmal der Vorsitzende geworden, den die Welt braucht.«
»Ich wünschte, ich könnte deine Liebe zur Menschheit teilen«, sagt sie mit spöttischem Ton.
»Ich komme in einer Viertelstunde, Katja.«
Ihr Laboratorium ist einen Stock über Nicki Crowfoots Räumen im Ostflügel untergebracht, eine mit Kabelgirlanden verhangene und mit Elektronik vollgestopfte Werkstatt. Aus diesem chaotischen Irrgarten von Material kommt Katja Lindman mit ihrem gewohnten geschäftigen Schritt auf ihn zu. Sie trägt eine weiße Bluse, einen grauen, offenen Arbeitskittel und einen braunen Tweedrock. Der Effekt ist nüchterne Sachlichkeit; Katja Lindman ist keine Frau, die ihre Sexualität projiziert. Sie hat es bei Schadrach auch nicht nötig, denn sie hat eine ihm unheimliche körperliche Autorität über ihn, die er nicht versteht. Wenn er bei ihr ist, hat er immer das Gefühl, auf der Hut sein zu müssen — nur weiß er nicht, wovor.
»Sieh mal!« sagt sie mit einer triumphierenden Armbewegung.
Er folgt ihr durch das Laboratorium zu der einzigen, nicht verstellten Fläche, einer Art Montageplattform, auf der das derzeitige Arbeitsmodell des künstlichen Vorsitzenden unter einer grellen Punktlichtlampe sitzt. Der Roboter ist von eineinhalbfacher Lebensgröße, eine massive, etwas plump geratene Imitation des Vorsitzenden, die so weit getrieben wurde, daß man die Metallarmaturen mit Plastikhaut überzogen und in Kleidungsstücke gesteckt hat. Nur der Oberkörper ist fertig; unterhalb des Zwerchfells scheint die ganze Gestalt sich in Aluminiumrohre, Antriebswellen, Gelenke und Massen von verschiedenfarbigen Kabeln aufzulösen. Während Schadrach das Ungetüm mit gemischten Gefühlen betrachtet, streckt der Ersatzvorsitzende den rechten Arm aus und winkt ihn mit einer ungeduldigen kleinen Handbewegung, die überraschend menschlich ausfällt, näher.
»Geh nur«, sagt Katja Lindman.
Er nähert sich dem Roboter. Als er auf drei Meter heran ist, bleibt er stehen und wartet. Der Kopf des Automaten wendet sich ihm zu, und die Lippen entblößen das Gebiß in einem unverkennbaren Grinsen, dem humorlosen, schrecklichen Grinsen des Vorsitzenden, das sich langsam in den Winkeln der ledrigen Wangen bildet, ein Grinsen, das sich selbst zu beglückwünschen scheint. Fast unmerklich glätten sich die Züge wieder, ohne erkennbaren Übergang; nun blickt der Roboter finster auf seinen Besucher herab, und der Zorn des Vorsitzenden verdunkelt den Raum. Und dann ein Lächeln. Ein kaltes Lächeln, denn ein anderes kennt der alte Mann nicht. Gleichwohl läßt es einen aufatmen, so arktisch es ist; und es läßt sich nicht leugnen, daß dieses Lächeln eine unglaublich lebensechte Nachbildung des Originals ist. Und schließlich das Zwinkern, das berühmte Zwinkern des Alten, dieses schlaue, entwaffnende Zufallen des schweren Augenlids, das alle scheinbare Wildheit auslöscht und ein ermutigendes Gefühl von Perspektive und von gesundem Menschenverstand vermittelt: Nimm mich nicht so ernst, Freund, ich bin nicht der Größenwahnsinnige, für den du mich hältst. Und dann, gerade als das Zwinkern seine Wirkung getan hat, und der Schrecken, den Dschingis Khan II. Mao mit einem Blick erzeugen kann, sich verflüchtigt hat, nimmt das Gesicht seinen ursprünglichen Ausdruck an, eisig, fremd, abweisend.