»Und der wirkliche Mörder Mangus…«
»War Mangu selbst, neun zu eins. Aber was hat das für mich zu sagen, wenn der Vorsitzende an einen Mord glauben will? Ich werde fortfahren, nach dem Mörder zu fahnden, Verdächtige zu vernehmen und bei der Gelegenheit Feinde unserer Staatsordnung zu den Organfarmen zu schicken, bis man mir sagt, daß ich damit aufhören soll. Und nun gehen Sie schon. Gehen Sie!«
12
Am nächsten Tag verlautet, daß dreizehn Verschwörer in die Organfarmen geschafft worden seien, darunter Roger Buckmaster. Solche Gerüchte pflegen im allgemeinen zutreffend zu sein, aber Schadrach Mordechai, der sich mit der Vorstellung noch immer nicht abfinden kann, nimmt die Mühe auf sich, über seinen Datenanschluß das zentrale Personenregister anzuzapfen, um in Erfahrung zu bringen, wo Buckmaster ist. Er erhält die Auskunft, daß Buckmaster der Abteilung an überstellt worden sei. Schadrach versucht es als nächstes mit dieser Kodenummer, obwohl er sich denken kann, was wahrscheinlich dahintersteckt, und tatsächlich, Abteilung 111 ist der Euphemismus für die Organfarmen. Buckmaster ist ins menschliche Ersatzteillager eingegangen.
Spieker durch das Foramen magnum.
Zack.
Der arme Dummkopf.
Schadrach beschließt das Thema Buckmaster während seiner morgendlichen Visite beim Vorsitzenden nicht anzuschneiden. Eine Intervention zugunsten Buckmasters wäre jetzt abwegig.
»Die Verschwörung ist zerschmettert!« erklärt Dschingis Khan II. Mao triumphierend, als Schadrach eintritt. »Die Schuldigen sind bestraft worden. Die Bedrohung von Ruhe und Ordnung ist abgewendet.« Seine Augen blitzen befriedigt, der alte, zusammengeflickte Körper scheint von gesunder Energie erfüllt.
Schadrach nimmt eine Blutprobe, verabreicht Medikamente, prüft Reflexe. Der alte Mann beachtet ihn nicht mehr als einen Diener, der beauftragt ist, die Bettwäsche zu wechseln. Er beschäftigt sich mit Akten, darunter auch einigen Plänen für Monumente zu Ehren des toten Nachfolgers. Der Vorsitzende betrachtet sie mit kritischem Interesse, nickt, kritzelt Bemerkungen an die Ränder, murmelt schwer verständliche Kommentare, die für keinen anderen als für ihn selbst bestimmt sind.
»Ha! Das gefällt mir!« sagt er auf einmal. »Ein Mausoleum nach dem Vorbild griechischer Tempel, mit Statuen statt Säulen. Was halten Sie davon, Doktor?« Er schiebt die Blaupause über die Bettdecke Schadrach zu. »Natürlich Ionigylakis’ Idee. Er macht Anleihen bei den Alten und glaubt es besser zu können als sie. Wie finden Sie es, Mordechai?«
»Die Statuen stören mich«, sagt Schadrach nach längerer Betrachtung. »Ich finde, sie bringen zuviel Unruhe in die Front und die seitlichen Säulenreihen. Man kann ein Erechtheion nicht ohne weiteres ins Monumentale übertragen. Eine solche Lösung bedarf eines sehr feinen ästhetischen Empfindens. Außerdem lastet der mächtige Giebel viel zu schwer auf diesen Gestalten, meinen Sie nicht?«
Der alte Mann nimmt die Blaupause mit verdrießlicher Miene zurück und legt sie beiseite.
»Sagen Sie mir, Doktor: glauben Sie, daß Mangu große Schmerzen erduldete?«
»Er muß augenblicklich tot gewesen sein. Dürfte ich Ihren Arm haben…«
»Und hier, ja, das gefällt mir wirklich!« sagt der Vorsitzende, ohne sich um ihn zu kümmern. »Ein Alabastersarkophag, verziert mit Halbreliefs, die Szenen aus dem Leben des Toten zeigen… ja, warum nicht? — sagen Sie, Doktor, kennen Sie Chin Shi Huang Ti?«
»Wie bitte?«
»Chin Shi Huang Ti.«
»Ich fürchte, ich habe diesen Namen nie gehört.«
»Das ist eine ernste Bildungslücke, mein lieber Doktor, beinahe unverzeihlich! Chin Shi Huang Ti war der erste Herrscher Chinas, der Mann, der das ganze Land unter seiner Herrschaft einte und die Große Mauer errichtete. Wissen Sie, wie man ihn bestattete?« Der alte Mann sucht zwischen den Papieren und Akten auf seinem Bett, nimmt sich eine Mappe mit Dokumenten vor und beginnt zu unterzeichnen, während er weiterspricht. »Als der Kaiser starb, wurde er in einem Palast beigesetzt, zusammen mit Hunderten von Sklaven, Kriegern und Pferdegespannen, die ihm ins Jenseits folgten. Darauf wurde der Palast zugeschüttet und unter einem mächtigen Sandhügel begraben. Das nenne ich Größe!« Der alte Mann blickt auf, runzelt die Stirn, befeuchtet sich die Lippen. »Natürlich kann man so etwas heute nicht mehr machen. Aber es bringt mich auf Überlegungen, wie ich mein eigenes Leichenbegängnis ausrichten könnte. Ich denke, ich verdiene etwas an Größe und Aufwand Vergleichbares. Aber was?« Dschingis Khan II. Mao blickt sinnend auf seine Akten, dann verzieht er die ledernen Lippen zu einem belustigten Lächeln. »Nun, es ist noch Zeit, etwas zu planen! Zwanzig, dreißig Jahre! In der Tat, warum sollte ich jetzt an ein Grabmal für mich selbst denken! Mangu ist derjenige, den wir beerdigen. Er soll ein hübsches Mausoleum bekommen!« Er schiebt die Blaupausen zusammen und wirft sie auf den Boden neben das Bett. »Bisher haben wir einundvierzig schuldige Verschwörer in die Organfarmen geschickt, Doktor.«
»Ich hörte von dreizehn.«
»Einundvierzig, und wir sind längst noch nicht fertig. Ich habe Avogadro gesagt, daß er mindestens einhundert zusammenfangen soll. Stellen Sie sich vor, was da an Lebern auf Lager genommen wird! Die Kilometer von Gedärmen! Eine nützliche Sache, die Organfarmen. Ich hasse Verschwendung gleich welcher Art. Und mit der Auffüllung der Organvorräte verbindet sich ein wuchtiger Schlag gegen Feinde des Staates und unserer Gesellschaftsordnung. Darin liegt eine Art von Poesie, finden Sie nicht, Doktor?«
»Sollten Sie jetzt nicht ein wenig ruhen?« sagt Schadrach.
»Ruhen? Ich bin doch im Bett. Ich brauche nicht auszuruhen. Ich könnte jetzt aufstehen und zu Fuß nach Karakorum gehen. Wozu Ruhe? Sind Sie meinetwegen besorgt, Doktor?« Der Vorsitzende kräht sein Altmännerlachen. »Ich fühle mich großartig. Es ging mir nie besser. Hören Sie auf, wie eine alte Glucke zu tun. Was sind Sie doch für ein altes Weib, Doktor! Sind Sie eigentlich Christ?« Schadrach blickt verdutzt auf.
»Ein Christ. Das müssen Sie doch wissen. Betrachten Sie den Sohn Gottes als Ihren Erlöser? Was? Können Sie nicht hören? Werden die Ohren schon schlecht? Ich werde Warhaftig beauftragen, Ihnen neue Trommelfelle einzupflanzen. Ich habe Sie gefragt, ob Sie Christ sind.«
»Nun…«
»Sie wissen, was ich meine, Doktor. Vater unser, der du bist im Himmel. Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnaden. Wer mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt, hat das ewige Leben, und ich werde ihn am Jüngsten Tag auferwecken von den Toten, spricht der Herr. Ja? Kommt Ihnen das bekannt vor? Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünden der Welt. Ite missa est. Na?«
»Also meine Eltern nahmen mich manchmal mit in die Kirche, aber ich kann wirklich nicht sagen, daß ich…«
»Zu dumm. Sie sind nicht gläubig?«
»Dem Buchstaben nach vielleicht, denn meine Eltern ließen mich taufen, aber…«
»Mir scheint, auf die Frage kann es nur eine Antwort geben.«