»Dann bin ich nicht gläubig.«
»Nun, geheiligt werde dein Name… Trotzdem, würden Sie gern Papst sein?«
»Wie bitte?«
»Ist das alles, was Sie sagen können? Wie bitte? Wie bitte?« Der alte Mann imitiert seine unterwürfige Haltung mit vernichtender Lächerlichkeit. Sein Puls beschleunigt sich, das Gesicht ist von Röte überzogen. »Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben, sagt der Herr; niemand kommt zum Vater denn durch mich.« Diese manische Unbeständigkeit beunruhigt Schadrach, und er läßt dem alten Mann durch Betätigung des Pedals wieder eine Dosis Pordenone 9 zukommen, damit er sich beruhigt. Aber der Greis sitzt aufrecht im Bett, fuchtelt schwächlich mit beiden Händen und krächzt: »Antworten Sie, ja oder nein, aber nicht mehr mit ›Wie bitte‹! Papst! Ich fragte Sie, möchten Sie Papst sein? Sicher haben Sie es gehört, der Papst in Rom ist gestorben, der alte Benedikt. Die Kardinale haben den Revolutionsrat um Erlaubnis ersucht, in diesem Sommer zur Wahl eines Nachfolgers zusammentreten zu dürfen. Der Revolutionsrat wurde eingeladen, einen Kandidaten seines Vertrauens zu benennen. Und wissen Sie, was ich machen werde? Ich werde ihnen den Namen meines Leibarztes schicken, meines schönen schwarzen Doktors, verstehen Sie? II Papa negro. Es soll schwarze Heilige gegeben haben, warum also nicht einen schwarzen Papst? Suchen Sie sich einen geeigneten Papstnamen. Das gehört zu den Privilegien, die Ihnen als Papst geblieben sind. Was sagen Sie zu Papst Fridolin? Eh?« Der Vorsitzende klatscht erfreut in die Hände. »Papst Fridolin! Papst Fridolin!«
Die neue Leber, denkt Schadrach. Kann es die Leber eines Verrückten gewesen sein?
Er sagt höflich: »Ich bin nicht römisch-katholisch getauft, wissen Sie.«
»Das läßt sich nachholen, lieber Doktor! Ist das so schwierig? Ein paar Wochen Unterweisung, und Sie wissen die richtigen Worte zu murmeln. Kyrie eleison. Credo in unum Deo. Om mani padme hum.«
Hinter all diesem verrückten Gerede lauert etwas Unheilverkündendes. Die abrupten Themenwechsel, die Hektik der Fantasien, die übersprudelnde Redseligkeit sind nicht dazu angetan, das Zutrauen in die geistige Stabilität des Vorsitzenden zu stärken. Wären die übrigen Mitglieder des Revolutionsrates nicht uneins und eifersüchtig aufeinander, denkt Schadrach, so hätten sie ihren Vorsitzenden längst abgesetzt. Aber sie paralysieren sich gegenseitig, und der Nutznießer davon ist dieser Greis: der mächtigste Mann der Welt.
Schadrach sagt: »Wenn ich Papst würde, wer würde dann Ihr Leibarzt sein?«
»Wieso, Sie natürlich.«
»Von Rom aus?«
»Wir würden den Sitz der Kirche nach Ulan Bator verlegen.«
»Trotzdem, ich glaube nicht, daß ich beiden Berufen gerecht werden könnte.«
»Ein junger Mann wie Sie! Natürlich könnten Sie. Wie alt sind Sie, fünfunddreißig, achtunddreißig, etwa in der Gegend? Sie würden einen großartigen Papst abgeben. Ich würde selbst katholisch, und Sie könnten mir die Beichte abnehmen. Weisen Sie das Angebot nicht zurück, Doktor. Wie die Dinge jetzt liegen, haben Sie ohnehin nicht genug zu tun. Sie brauchen Ablenkungen. Sie verbringen zuviel Zeit damit, mich zu behandeln, weil Sie Ihre Tage in Müßiggang verbringen müßten, wenn Sie es nicht täten. Sie pumpen mich mit unnötigen Medizinen voll. Warum starren Sie mich so an?«
»Ich würde es vorziehen, nicht Papst zu werden.«
»Ist das Ihr letztes Wort?«
»Mein letztes.«
»In Ordnung. Dann werde ich Avogadro vorschlagen.«
»Er ist wenigstens Italiener.«
»Sie halten mich für verrückt, Doktor, geben Sie es zu.«
»Ich denke, Sie überanstrengen sich. Ich verschreibe Ihnen zwei Stunden absoluter Ruhe. Darf ich Ihnen ein Schlafmittel geben?«
»Sie dürfen nicht. Sie können gehen und sich in Karakorum amüsieren. Gonchigdorge wird Papst sein, ja, ein Mongole, was sagen Sie dazu? Das gefällt mir. Ihr da oben, heiliger alter Vater Dschingis, alter Timur, gefällt euch das? Lassen Sie mich allein, Doktor. Sie gehen mir heute auf die Nerven. Ich bin nicht verrückt, und ich überanstrenge mich nicht. Mangus Tod bekümmert mich. Ich betrauere ihn. Nichtsdestoweniger werde ich die Gelegenheit nutzen und meinen Feinden einen Denkzettel geben.
Einundvierzig in den Farmen, und das nach einem Tag! Gehen Sie nach Karakorum, dann bin ich Sie bis morgen früh los.«
Die metabolischen Pegelstände steigen auf breiter Front. Schadrach ist alarmiert. Wieder tritt er auf das Pedal. Der alte Mann ist inzwischen mit Pordenone 9 vollgepumpt, aber irgendwie läßt sein none 9 vollgepumpt, aber irgendwie läßt sein aufgeputschtes Temperament die Droge nicht zur Wirkung kommen, und er bleibt noch eine gute Weile in seiner manischen Erregtheit. Endlich sieht Schadrach die ersten Zeichen von Beruhigung. Der alte Mann legt sich zurück und schließt die Augen. Schadrach geht leise hinaus, in Sorge, aber zuversichtlich, daß das Beruhigungsmittel die Stimmungslage des Patienten für einige Stunden stabilisieren wird. Als er die Tür schließen will, hört er ein kicherndes Lachen, und der Greis ruft ihm mit fistelnder Stimme nach: »Oder König von England! Was sagen Sie dazu? Wir führen das Königtum wieder ein, und Sie residieren in Windsor!«
13
Er fährt mit Katja Lindman nach Karakorum. Gewöhnlich verbringt er seine freien Abende mit Nicki Crowfoot; aber sie sind nicht verheiratet, es gibt kein monogamisches Verhältnis zwischen ihnen. Er liebt Nicki oder bildet es sich ein, was für ihn auf das gleiche hinausläuft. Aber es ist ihm noch nie gelungen, sich Katja Lindman für längere Zeit zu entziehen. Jetzt ist sie im Aufsteigen, wie der unheilvolle Saturn, der dem Sternbild Wassermann ins Haus steht. Diese Nacht wird ihr gehören. Nicki ist sowieso nicht da, ist ausgegangen, er weiß nicht, wohin. »Möchtest du heute Abend die Träume versuchen?«
»Warum nicht?« Ihre Energie, ihre raue Altstimme haben seinen Willen unterjocht. Er ergibt sich in sein Schicksal, ist endlich bereit, sich in den Mysterien des Traumtodes unterweisen zu lassen. Als er sein Einverständnis nickt, funkeln ihre dunklen Augen mit einem Ausdruck, der ihm wie boshafte Freude vorkommt.
Der Traumtod-Pavillon ist ein großes Zelt mit mehreren Masten, bespannt mit schwarzem, orangerot gesäumtem Stoff. Über dem Eingang ist die Wiedergabe eines Widderkopfes befestigt, der in seiner Aggressivität entschlossen scheint, die kalte Frühjahrsnacht auf die mächtigen, gewundenen Hörner zu nehmen. Schadrach weiß, daß der Widderkopf Amon Re versinnbildlicht, den Herrn der Furcht, König der Sonne, Schutzherr des Traumtodes; denn dieser Kult soll aus dem alten Ägypten stammen, ein geheimer Ritus, der über die Generationen hin weitervermittelt wurde, seit er in der Zeit der Fünften Dynastie an den Ufern des trägen, fruchtbaren Nils ausgeübt wurde. Im Innern des Zeltes ist zu Schadrachs Überraschung alles licht. Eine Unzahl von Lampen verbreitet blendende Helligkeit, so daß die Luft von betäubendem, bläulich weißem Licht zu brennen scheint und alle Schatten ausgelöscht sind. Schadrach ist von dieser grellen Beleuchtung unangenehm berührt und wünscht sich in die schummrige Atmosphäre des Transtemporalistenzelts. Aber im Reiche Amon Res muß das strahlende Licht der Sonne herrschen.
Eine kostümierte Gestalt nähert sich ihnen, eine schlanke orientalische Frau in einem weißen Lendenschurz und einer mächtigen vergoldeten Löwenmaske, die schwer auf ihren schmächtigen Schultern ruht. Um den Hals trägt sie ein goldenes Amulett. Sie spricht nicht, aber ihre ausdrucksvollen Gebärden geleiten Schadrach und Katja Lindman durch das gut besuchte Zelt, vorüber an Dutzenden von Schläfern, die auf weichen, weißen Matratzen liegen, durch symbolische Unterteilungen aus goldfarbenen Kordeln, die zwischen Pfosten aus Ebenholz gespannt sind, voneinander getrennt. In dem leeren Abteil, das ihnen zugedacht ist, liegen zwei solcher Matratzen nebeneinander, auf jeder ein sauber zusammengefaltetes Traumkleid. Neben dem Eingang steht eine mit reichem Schnitzwerk verzierte hölzerne Truhe, die zur Aufnahme ihrer Straßenkleidung bestimmt ist. Katja beginnt sich sofort zu entkleiden, und Schadrach folgt nach kurzem Zögern ihrem Beispiel. Die Wärterin bleibt am Eingang stehen, zeigt kein Interesse an der Nacktheit der Besucher. Schadrach kommt sich in seinem Kostüm albern vor. Es besteht aus einem Lendenschurz, der Hüften und Schenkel bedeckt, einem Gürtel aus einer Schnur mit aufgereihten Glasperlen, und zwei schmalen grünen und blauen Stoffstreifen, die ihm von der Wärterin kreuzweise um den Oberkörper befestigt werden.