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Plötzlich verschwindet Philadelphia vom Bildschirm und wird von einer idyllischen Tropenszene ersetzt, die einen halbmondförmigen weißen Strand, gefiederte Palmwedel und gelb und scharlachrot blühenden Hibiskus zeigt. Menschen sind nicht zu sehen. Nachdem Schadrach die Idylle eine kleine Weile betrachtet hat, geht er weiter.

Durch eine schwere, mit einheimischer Schnitzarbeit verzierte Tür betritt er eine geräumige Diele, die als Empfangszimmer und Warteraum für Besucher dient und mit einfachen chinesischen Möbeln ausgestattet ist. Der einzige Luxus sind die alten Seidentapeten an den Wänden. Von hier gehen mehrere Türen aus. Linker Hand gelangt man ins Schlafzimmer des Vorsitzenden, aber Schadrach geht nicht hinein. Es ist am besten, den alten Mann heute schlafen zu lassen, bis er von selbst aufwacht. Er geht an den privaten Arbeits- und Wohnräumen des Vorsitzenden vorbei und steigt, einer plötzlichen Eingebung folgend, die innere Wendeltreppe zum Sitzungssaal des Revolutionsrates hinab. In den angrenzenden Zimmerfluchten befinden sich die Arbeitsräume der Ratsmitglieder, die zentrale Nachrichtenabteilung und die Verbindungsbüros zu den Ministerien. Mit einigem Recht kann man dieses Geschoß als das Nervenzentrum der planetarischen Regierung betrachten. Bei Tag und Nacht gehen hier die Meldungen von Parteikadern in allen Städten der Erde ein; und bei Tag und Nacht finden Besprechungen und Anhörungen statt, werden Entscheidungen getroffen und gehen in Form von Direktiven an die Ministerien und die nationalen Organe des Revolutionsrates hinaus. Alle Anträge auf Behandlung mit der kostspieligen RonkevicImmunisierung werden hier geprüft und entweder genehmigt oder abschlägig beschieden. Schadrach Mordechai ist kein politischer Mensch, und was in den Räumen des Revolutionsrates vorgeht, bekümmert ihn wenig. Da aber einige Mitglieder zu seinen Patienten zählen, kommt er des öfteren hierher und hat dann Gelegenheit, das geschäftige Treiben zu beobachten.

Die frühen Morgenstunden sind gewöhnlich am ruhigsten, und auch jetzt scheint nicht viel los zu sein. Von den zwölf Plätzen in der Nachrichtenzentrale sind nur drei besetzt. Schadrach ist sich mit Dankbarkeit bewußt, daß dies eine stille Zeit ist. Die aus seiner Sicht einzige akute Krise in der weiten Welt ist diejenige in des Vorsitzenden Leber, und da wird bald Abhilfe geschaffen.

Als er am Sekretariat vorbeikommt, hört er sich beim Namen gerufen. Er macht halt, wendet sich um und sieht Mangu, den designierten Nachfolger des Vorsitzenden, der eben aus dem Sekretariat tritt.

»Wird der Vorsitzende heute operiert?« fragt Mangu besorgt.

Schadrach nickt. »In ungefähr drei Stunden.«

Mangu nickt geistesabwesend, dann blickt er stirnrunzelnd zu Boden. Er ist ein stattlicher, noch jüngerer Mann von kräftiger Statur und mit dem kantigen Gesicht des Nordchinesen. Sein Blick ist wach und von gewinnender Offenheit. Er hat eine steile Karriere in der Funktionärshierarchie hinter sich, doch hat es den Anschein, als fühle er sich seit seiner Berufung zum Stellvertretenden Vorsitzenden nicht mehr ganz ausgelastet. Im Moment wirkt er angespannt und besorgt.

»Wird es gut ausgehen? Wie hoch ist das Risiko?«

»Seien Sie unbesorgt«, antwortet Schadrach. »Schließlich ist es nur eine Lebertransplantation.«

»Man sollte meinen, das sei bei einem alten Mann gefährlich genug.«

»Der Vorsitzende hat bereits zwei Leberverpflanzungen hinter sich.«

»Aber wie viele chirurgische Eingriffe wird er noch überstehen? Er ist ein Greis und…«

»Das lassen Sie ihn lieber nicht hören!«

Mangu zuckt die Achseln. »Wahrscheinlich hört er sogar zu«, sagte er beiläufig. Etwas von der Spannung scheint von ihm zu weichen. »Er weiß, daß ich es in aufrichtiger Sorge um ihn gesagt habe.«

Schadrach lächelt vorsichtig. Wie schon des öfteren, fragt er sich auch jetzt wieder, ob die Tugend der Offenheit und Geradlinigkeit, die Mangu große Popularität bei der Bevölkerung eingebracht hat, in der Politik, wo allein Klugheit und Verstellungskunst zu zählen scheinen, nicht als ein ernster Mangel anzusehen sei. Er erinnert sich, daß Doktor Crowfoot vom Projekt Avatara, Nicki Crowfoot, seine Nicki, mit der er diese Nacht verbracht hätte, wäre nicht die bevorstehende Operation gewesen, ihm schon vor Wochen unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitgeteilt hatte, welches traurige Schicksal Mangu erwartete, wenn es nach den Vorstellungen des neuen Dschingis Khan ginge. Daher weiß Schadrach, was Mangu mit größter Wahrscheinlichkeit nicht einmal ahnt — nämlich, daß der Vorsitzende beabsichtigt, sein eigener Nachfolger zu werden. Im Laufe des vergangenen Jahres scheint sich im Bewußtsein des alten Mannes die fixe Idee festgesetzt zu haben, sich selbst mit Hilfe von Mangus kräftigem, gesunden Körper eine zweite Lebenszeit zu verschaffen. Aus diesem Grund rief er unter dem Vorwand, die medizinische Grundlagenforschung fördern zu wollen, das Projekt Avatara ins Leben. Wenn es erfolgreich abgeschlossen werden kann — und die Aussichten dafür sind nicht schlecht —, dann wird eines Tages wirklich Mangus kraftvoll-jugendliche Erscheinung auf dem Sessel des Vorsitzenden Platz nehmen, bloß wird Mangus selbst nicht dabei sein, um sich des Erfolgs zu erfreuen. Freilich ist kaum zu erwarten, daß die Operation unbemerkt vom Revolutionsrat oder gar mit seiner Billigung durchgeführt werden kann. Nichtsdestoweniger möchte Schadrach nicht in Mangus Haut stecken; und jeder, der so nichtsahnend und unbekümmert der eigenen Vernichtung entgegengeht, wie Mangu es zu tun scheint, ist ein Dummkopf, dem es am nötigen Gespür fehlt.