Katja lächelt ihm zu. Er verspürt eine Anwandlung von Lust, als sie ihre Kleider ablegt und einen Lendenschurz anlegt, der dem seinigen gleicht. Statt der Stoffstreifen legt sie sich ein Amulett wie jenes der Wärterin um den Hals. Wie immer, bringt ihr Körper ihn aus der Fassung: breithüftig und untersetzt, ist es der Körper einer Bäuerin, mit tiefliegendem Schwerpunkt, einem unter glatten Rollen Bauchspeck verborgenem Nabel, vollen und ziemlich lang herabhängenden Brüsten. Es ist ein kräftiger und wollüstiger Körper, stark, ohne auch nur im mindesten athletisch zu sein, von einer ähnlich übertriebenen Weiblichkeit wie die urzeitlichen Frauenidole aus den Höhlen der Cro-MagnonMenschen. Was Schadrach am meisten stört, ist der Gegensatz zwischen diesem robusten, an Mutter Erde gemahnenden Körper und den bedrohlich spitzen und scharfen kleinen Raubtierzähnen unter, den schmalen Lippen. Katjas Mund steht im Widerspruch zu der archetypischen Erscheinung ihres Körpers, und dieser Widerspruch macht sie für Schadrach zu einem Rätsel. Vielleicht gilt hier das Wort Falsus in uno, Falsus in omnibus.
Die löwenköpfige Wärterin fordert sie auf, auf den Matratzen niederzuknien und reicht jedem von ihnen eine Art Talisman aus poliertem Metall. Zuerst scheint es nichts weiter als die Nachbildung eines alten ägyptischen Handspiegels zu sein, ein verzierter Handgriff, der eine polierte Metallscheibe mit einem Randornament aus fein gravierten ägyptisierenden Motiven trägt, den Horusfalken, Schlangen, Skorpione, Skarabäen, Bienen, den Ibis des Gottes Toth, dazwischen winzige, aber irgendwie unheilvoll aussehende Hieroglyphen; aber wie er hineinblickt, beginnt Schadrach ein schwindelerregendes Muster beinahe unsichtbarer punktierter Linien wahrzunehmen, die in Spiralen um die Mitte der Scheibe angeordnet scheinen; diese Linien sind nur zu sehen, wenn er den Spiegel in einem bestimmten Winkel zu einer grellen Lampe über ihm hält; und indem er den Spiegel ein wenig bewegt, kann er den Linien einen Anschein von Bewegung verleihen, ein Wirbeln gegen den Uhrzeigersinn, einen Strudel…
… der ihn zum Mittelpunkt der Scheibe saugt.
Also arbeiten sie hier mit Hypnose statt mit Drogen, denkt er mit einem selbstgerechten wissenschaftlichen Überlegenheitsgefühclass="underline" Schadrach, der Gelehrte, der über den Dingen stehende Beobachter aller menschlichen Phänomene… Aber dann fühlt er einen unwiderstehlichen Sog, der ihn hilflos anzieht, und er ist nur noch ein Staubkorn in den kosmischen Winden, ein Trugbild…
Als er untergeht, stimmt die Priesterin — denn als eine solche sieht er sie jetzt — einen rhythmischen Gesang an, fragmentarisch und unverständlich, eine Mischung von mongolischen, chinesischen und möglicherweise altägyptischen Worten, die vielleicht sinnentleerte Anrufungen von Seth, Hathor, Isis, Anubis und Bast darstellen. Gestalten aus dem Mythos umgeben ihn in dem jäh herabsinkenden Schatten, der falkenköpfige Gott, der große Schakal, der hundsgesichtige Affe, der Skarabäus, ausgetrocknete Gottheiten, die in unverständlichen Zungen wissende Bemerkungen austauschen, nikken und deuten. Hier ist Vater Amon, strahlend wie Sonnenfeuer, und winkt ihm einladend zu. Hier ist die Bestie ohne Gesicht, die Ströme von Sternenlicht verstrahlt. Hier ist der Zwergengott, der Beschützer der Toten, prustet und hüpft und gebärdet sich wie ein Hanswurst. Hier ist die Göttin mit dem Frauenkörper und den drei Schlangenköpfen. Die Götter tanzen, lachen, lassen wassergefüllte Becher die Runde machen, spucken, weinen, klatschen in die Hände. Die Priesterin singt noch immer. Ihre Worte, die einem immerwährenden Kreislauf zu folgen scheinen, ergreifen und beherrschen ihn. Er kann kaum noch irgend etwas erfassen, alle Strukturen lösen sich auf und werden formlos, aber trotz allem bleibt er sich undeutlich bewußt, daß er programmiert wird, daß er von diesem schmächtigen gelben Mädchen, das in einem einförmigen Singsang spricht, auf eine bestimmte Haltung zu Leben und Tod hingeführt wird, die in den kommenden Stunden seine Erfahrungen formen wird.
Er wird auseinandergerissen. Etwas trennt ihn sanft und schmerzlos von ihm selbst. Nie zuvor hat er derartiges gefühlt, nicht im Zelt der Transtemporalisten, nicht nach der Einnahme einer der traditionellen Drogen, nicht im Alkoholrausch: dies ist neu und einzigartig, ein Abstreifen der Körperlichkeit, eine Befreiung zur Schwerelosigkeit. Er weiß, daß er…
… stirbt?
Ja, stirbt. Das ist es, was hier geboten wird, Tod, die wirkliche Erfahrung des Abschieds vom Leben, oder der Abschied des Lebens von einem selbst. Er kann seinen Körper nicht länger fühlen. Er ist jenseits aller äußeren Empfindung. Dies ist der wahre Tod, diese endgültige Entzweiung, auf die sein Leben sich all seine Tage hinbewegt hat; keine Simulation, kein hypnotischer Trick, sondern wirklicher und wahrhaftiger Tod, der Abgang des Schadrach Mordechai. Natürlich weiß er auf einer tieferen Bewußtseinsebene, daß es nur ein Traum ist, ein Erlebnis, das er sich zum Vergnügen gegönnt hat; doch unter diesem Bewußtsein liegt die Erkenntnis der Möglichkeit, daß er vielleicht nur träume; daß er den Metallspiegel, das löwenköpfige Mädchen und das Zelt träume und in Wahrheit durch die Illusion einer Illusion gefangen sei und heute Abend hier sterbe. Es spielt keine Rolle.
Wie leicht ist das Sterben! Um ihn her ist ein kühles, feuchtes Grau, darin sich alles auflöst, Anubis und Toth, Katja und die Priesterin, das Zelt, der Spiegel, Schadrach selbst, vom Grau durchdrungen, bis er ein Teil davon ist. Er schwebt zum Mittelpunkt der Leere. Ist dies, was der alte Mann so sehr fürchtet? Ein Ballon zu sein, aller Verantwortung ledig und völlig befreit dem Schweben hingegeben? Der alte Mann ist so schwer. Er hat soviel Gewicht. Es mag schwierig sein, sich dessen zu entledigen, doch Schadrach fällt es leicht. Er geht durch den Mittelpunkt und kommt auf der anderen Seite hinaus, materialisiert sich aus dem Nebel und gewinnt seine menschliche Gestalt zurück. Er ist jetzt völlig nackt, hat nicht einmal den Lendenschurz. Katja, gleichfalls nackt, steht neben ihm. Zu ihren Füßen liegen ihre abgelegten Körper, entspannt und schlaff, offenbar schlafend, denn sie erwecken den Anschein, langsam und rhythmisch zu atmen, aber das ist nicht so: sie sind tatsächlich tot, wirklich und wahrhaftig tot. Schadrach Mordechai betrachtet seinen eigenen Leichnam.
»Wie still es hier ist«, sagt Katja.
»Und rein. Man hat für uns die Welt gewaschen.«
»Wohin sollen wir gehen?«
»Irgendwohin.«
»In den Zirkus? Zum Stierkampf? Auf den Marktplatz?«
»Irgendwohin«, sagt Schadrach. »Ja. Laß uns irgendwohin gehen.«
Mühelos schweben sie in die Welt hinaus. Die Löwenköpfige winkt ihnen nach. Die Luft ist mild und balsamisch. Die Bäume stehen in Blüte, es sind Feuerblumen, kleine Flammenkelche, die an den Spitzen der Zweige sprießen; sie lösen sich und schweben herab, wirbeln durcheinander, kommen näher, berühren sich, sinken in ihre Körper ein. Schadrach beobachtet den Durchgang einer flammenden roten Blüte durch Katjas Oberkörper; sie kommt zwischen ihren Schultern wieder zum Vorschein, sinkt zu Boden, keimt und sprießt. Ein magerer Schößling wächst und geht in flammende Blüten auf. Sie lachen wie Kinder. Zusammen schweben sie über den Kontinent. Die Sandflächen der Gobi glitzern. Vor ihnen erstreckt sich die Große Mauer, eine sich windende steinerne Schlange, die über Berge und durch Täler kriecht.