»Wo werden Sie während der Operation sein?« fragt Schadrach.
Mangu macht eine weitausholende Geste. »Hier, natürlich.« Er lacht. »Ich werde vorgeben, die Funktionen des Vorsitzenden auszuüben.«
»Vorgeben?«
»Sie wissen, Doktor, daß er nach der Art vieler alter Männer glaubt, nur er könne es richtig machen. Infolgedessen kümmert er sich um jede Kleinigkeit selbst und gewährt niemandem Einblick in seine einsamen Entscheidungen. Ich unterrichte mich über alles, so gut ich kann, aber wenn er heute stürbe, wüßte ich über vieles nicht Bescheid. Darum betrachte ich diese Transplantationen mit einer gewissen Sorge.«
»Wir tun das nicht, um in Übung zu bleiben, glauben Sie mir«, sagt Schadrach. »Die Leber funktioniert schon seit Wochen nicht mehr richtig. Sie muß heraus. Aber Sie können wirklich unbesorgt sein.«
Mangu lächelt ihm zu und nickt. Es ist ein erstaunlich warmes und freundliches Lächeln. »Ich vertraue Ihnen, Doktor. Ihnen und Ihren Kollegen, die den Vorsitzenden am Leben erhalten. Verständigen Sie mich nach der Operation von ihrem Ausgang, ja?«
»Selbstverständlich«, murmelt Schadrach.
Mangu nickt ihm noch einmal zu und geht weiter. Schadrach blickt ihm kopfschüttelnd nach. Mangu ist eine einnehmende Erscheinung, freundlich, ohne Dünkel, offen und verläßlich, und er hat sogar Charisma. In einer düsteren Zeit, die nur von unheilbringenden Blitzen alptraumhaften Lichts erhellt wird, ist Mangu so etwas wie ein Volksheld. In den vergangenen zehn oder zwölf Monaten hat er den Vorsitzenden mit zunehmender Häufigkeit bei offiziellen Feiern, Kongressen und dergleichen vertreten, und obwohl er kein überwältigendes Rednertalent besitzt, ist dieser entwaffnend ehrliche, zugängliche und bescheiden auftretende Mann bei der Bevölkerung beliebt wie kein anderer. Dschingis Khan II. Mao haben seine früheren Taten die ehrfürchtige Bewunderung der Menschen eingebracht, volkstümlich aber ist er nie geworden. Jene, die Mangu längere Zeit aus der Nähe erlebt haben, sind sich bewußt, daß er zwar enorm fleißig und gewissenhaft ist, ein tüchtiger Funktionär und Verwalter, daß es ihm jedoch an schöpferischer Fantasie und Originalität gebricht. Doch mag er auch trivial sein, er ist der beste Mensch im ganzen Revolutionsrat und alles andere als verachtenswert, und Schadrach empfindet echtes Mitgefühl für ihn. Der arme Mangu macht sich Sorgen, er könne eines schönen Tages unvorbereitet auf dem Stuhl des Vorsitzenden landen! Fühlt er nicht, daß er niemals — nicht in einem Jahr, nicht in zehn und nicht in hundert Jahren — ein geeigneter Nachfolger des Vorsitzenden sein wird, daß er aus seinem Wesen heraus unfähig ist, die furchtbare Macht auszuüben, die zu erben er vorgeblich ausersehen ist? Anscheinend nicht. Sonst hätte er, in Kenntnis seiner eigenen Grenzen, sich die Frage vorgelegt, was der Vorsitzende wirklich mit ihm im Sinne haben mag. Ihn zum vollwertigen Nachfolger auszubilden? Nein, gewiß nicht. Um seine Popularität auszunutzen und eines Tages seine Identität herauszureißen und wegzuwerfen, damit sein Körper zur Wohnung für die finstere Seele und den verschlagenen Verstand des alten Mannes werde, wenn der geflickte Greisenkörper nicht mehr repariert werden kann. Der arme Mangu. Schadrach fröstelt.
Eilig kehrt er in sein eigenes Arbeitszimmer zurück, schließt die Tür und sperrt sie ab.
Kaum fünf Minuten später wird in seinem linken Oberschenkel, nahe der Hüfte, wo er die Gehirnaktivität des Vorsitzenden empfängt, ein plötzliches scharfes Zupfen spürbar. Vier Zimmer weiter ist der alte Mann erwacht.
2
Inmitten des oft hektischen und aufreibenden Lebens im Regierungspalast stellt Dr. Mordechais Arbeitszimmer eine Insel der Ruhe dar. Der kaum mittelgroße Raum hat drei Zugänge, die jedoch nur von ihm selbst und vom Vorsitzenden benutzt werden können. Einer führt ins private Speisezimmer des Vorsitzenden, einer verbindet das Arbeitszimmer mit Schadrachs eigener Wohnung, und der dritte öffnet sich zum zweigeschossig angelegten Operationsraum für Regierungsmitglieder, hohe Funktionäre und die Beschäftigten des Regierungspalasts.
In der Zurückgezogenheit seines Arbeitszimmers erfreut sich Schadrach Mordechai einiger Augenblicke des Friedens, bevor er sich in die Aufregungen des Tages stürzt. Obwohl der Vorsitzende aufgestanden ist, besteht keine Notwendigkeit zur Eile. Schadrachs eingepflanzte Signalgeber sagen ihm, daß die zwei persönlichen Diener in Dschingis Khan II. Maos Schlafzimmer gekommen sind, dem alten Mann auf die Füße geholfen haben und ihm nun bei der aus behutsamen Armschwingen und Atemübungen bestehenden Frühgymnastik assistieren, die der alte Mann auf Anraten seines Leibarztes jeden Morgen getreulich absolviert. Als nächstes werden sie ihn baden und rasieren, dann werden sie ihn ankleiden und schließlich ins Speisezimmer geleiten. Heute wird ihn wegen der bevorstehenden Operation allerdings kein Frühstück erwarten. Trotzdem bleibt Schadrach ungefähr eine Stunde, ehe er sich seinem Schützling zuwenden muß.
Sehern der bloße Aufenthalt im Arbeitszimmer gibt ihm neuen Auftrieb. Die dunkle, reich geschnitzte Wandtäfelung, die gedämpfte Beleuchtung, der aufgeräumte Schreibtisch aus exotischem Holz, das feine Bücherregal aus Glasstäben und dünnen Travertinplatten, worin er seine unschätzbare Bibliothek klassischer medizinischer Werke verwahrt, die eleganten Vitrinen, die seine beachtliche Sammlung altertümlicher medizinischer Instrumente beherbergen — alles das ist für ihn eine ideale Umgebung, eine vollkommene Zuflucht für den Arzt, der er gern sein würde und gelegentlich sein darf, den Meister der hippokratischen Künste, den Erhalter und Verlängerer von Menschenleben. Nicht, daß dieser Raum ein Ort für die praktische Ausübung der Medizin wäre: die einzigen Instrumente hier sind altertümlich, und was an Geräten vorhanden ist, sind romantische und sonderbare Apparate, seltsam geformte Becher, Skalpelle und Lanzetten, Schröpfköpfe, Messer für den Aderlaß und Brenneisen, Ophthalmoskope und frühe und ungenaue anatomische Modelle, chirurgische Sägen, Blutdruckmesser, elektrische Wiederbelebungsmaschinen, Flaschen mit verrufenen Gegengiften, Trepanierbestecke, ein Mikrotom, Geburtshelferzangen und andere Relikte aus unschuldigeren Zeiten. Die meisten dieser Gegenstände hat er in den vergangenen fünf Jahren gesammelt, nicht zuletzt, um eine berufsmäßige Verwandtschaft zu den großen Ärzten der Vergangenheit herzustellen, denen er sich verbunden fühlt und deren Bücher, selten und glückverheißend, Landmarken der medizinischen Geschichte, seine Regale zieren: die Fabrica des Vesalius, De Motu Cordts von Harvey, Boerhaves Institiones, eine Abhandlung von Laennec über die Auskultation, eine von Beaumont über Verdauung — mit welcher Freude hat er sie gesammelt, mit welcher Ehrfurcht und Verehrung hat er sie in die Hände genommen und aufgeschlagen! Nicht ganz ohne Schuldgefühle, denn in dieser bitteren und erschöpften Zeit ist es für die wenigen, die über ein gutes und geregeltes Einkommen verfügen, allzu leicht, jene zu übervorteilen, denen beides fehlt; und Schadrach, als Leibarzt des Vorsitzenden und seiner engsten Mitarbeiter einer der bestbezahlten und privilegierten Menschen dieser Zeit, hat seine Schätze billig zusammengetragen, brauchte sie nur anzunehmen, wie sie ihm von älteren, weniger glücklichen und vielleicht würdigeren Besitzern angeboten wurden. Dennoch, wären diese Dinge nicht in seine Hände gekommen, so wären sie im allgemeinen Chaos und Niedergang womöglich ganz verlorengegangen.
Mordechais eigentliche ärztliche Tätigkeit findet anderswo statt, in der dem Operationsraum benachbarten Krankenstation jenseits von Sperre fünf. Dieses Arbeitszimmer ist nur ein Ort zum Lesen, Forschen und Nachdenken. Neben seinem Schreibtisch steht ein kleiner Datenanschluß, über den er jederzeit Zugang zur gesamten medizinischen Fachliteratur hat; er braucht bloß ein paar Tasten zu drücken, das Mikrofon einzuschalten und die beobachteten Symptome anzugeben, und schon liefert ihm die Datenbank Auszüge aus den gesammelten wissenschaftlichen Erkenntnissen der Jährhunderte, angefangen bei ägyptischen Papyri, bei Hippokrates und Galenos, bis hin zu den jüngsten Entdekkungen der Mikrobiologen, Immunologen und Endokrinologen. Es ist alles da: Enzephalitis und Endokarditis, Gastritis und Gicht, Nephritis, Nephrose, Neurome, Nystagmus und Bilharziose, Urämie und Xantochromie, alle die tausend natürlichen Plagen, denen das Fleisch unterworfen ist. Es gab eine Zeit, da die Ärzte Schamanen in Federmänteln und Erdfarben waren, die auf Trommeln schlugen, um gefährliche Dämonen zu verscheuchen, und einsam gegen unergründliche Ursachen und unerklärliche Wirkungen ankämpften, die mutig Adern öffneten und Schädel anbohrten, die nach Wurzeln gruben und Kräuter sammelten. Allein auf sich selbst gestellt gegen die dunklen Gespenster der Krankheit, ohne weitere Anleitung als den eigenen Vorrat an überlieferter Kunde von Krankheitsdämonen und ihrer Bekämpfung, Erfahrung und persönliche Intuition. Und jetzt! Hier! Die Antwortmaschine! Ein Druck auf die Taste, und siehe da: Etiologie, Pathologie, Semiotik, Pharmakologie, Prophylaxe, das ganze Spektrum von Diagnose, Behandlung, Heilung und Rekonvaleszenz. Jederzeit auf Abruf zur Verfügung! In seinen Mußestunden mißt er gelegentlich seine geistigen Fähigkeiten am gespeicherten Wissen der Datenbank, indem er sich hypothetische Fragen stellt, Symptome postuliert und Diagnosen versucht; vor elf Jahren hat er die Universität absolviert, aber er lernt noch immer.