»Natürlich würde es noch dramatischer sein, wenn es menschliche Persönlichkeiten wären. Und es wäre viel einfacher, festzustellen, ob eine Übertragung erfolgreich stattgefunden hat.«
»Gewiß.«
»Aber so was habt ihr nicht gemacht.«
»Noch nicht«, sagt Nicki. »Ich denke, nächste Woche werden wir soweit sein, daß wir unsere erste menschliche Persönlichkeitsübertragung in Angriff nehmen können.«
Schadrach fühlt sich von einem Frösteln überlaufen. Bisher ist es ihm gelungen, eine bewundernswerte Unpersönlichkeit zur Schau zu stellen; er hat das Gespräch genauso geführt, als ob sein Interesse am Objekt Avatara rein professioneller Natur wäre. Aber nun, da sie angefangen haben, über die Verpflanzung menschlicher Persönlichkeiten von einem Körper zum anderen zu sprechen, ist es nicht so einfach, über die Ziele und Konsequenzen all dieser sorgfältigen Forschungsarbeit hinwegzusehen. Er sieht sich außerstande, das Endziel des Projekts, die Verpflanzung eines Tigers in eine Gazelle, zu ignorieren: der Vorsitzende ist der Tiger und er selbst die glücklose Gazelle. Was wird aus der Gazelle, wenn die Tigerpersönlichkeit eindringt? Schadrach kommt ein Fluchtweg in den Sinn, den er bisher nicht bedacht hatte: wenn sie eine Schafspersönlichkeit in einem Löwenkörper und die Persönlichkeit des Vorsitzenden in seinen eigenen Körper verpflanzen können, dann können sie genauso leicht die Schadrach-Mordechai-Persönlichkeit in irgendeinen anderen Körper verpflanzen und dort weitermachen lassen. Aber der Gedanke überlebt seine Geburt nicht lange. Schadrach will nicht in einen anderen Körper umziehen. Er will seinen eigenen behalten. Wie sehr dies alles einem Traum gleicht! Bloß gibt es aus ihm kein Erwachen.
»Wie lange werdet ihr mit menschlichen Persönlichkeitsübertragungen experimentieren«, fragt er, »bevor ihr bereit sein werdet…«
»Die Persönlichkeit des Vorsitzenden zu übertragen?«
»Ja.«
»Das ist schwierig zu beantworten«, sagt Nicki achselzuckend. »Es hängt von den Problemen ab, denen wir bei den ersten menschlichen Persönlichkeitsübertragungen begegnen. Wenn es unerwartete schwierige Probleme mit der psychologischen Anpassung gibt, wenn die Verpflanzung zu psychotischen Persönlichkeitsveränderungen, Gehirnschäden, Identitätsverlusten oder dergleichen führt, dann kann es Monate oder gar Jahre dauern, ehe wir wagen dürfen, den Vorsitzenden in einen neuen Körper zu verpflanzen. Unsere Tierexperimente haben keine Hinweise ergeben, daß solche Probleme auftauchen werden, aber die menschliche Persönlichkeitsstruktur ist komplizierter, und wir müssen die Möglichkeit berücksichtigen, daß komplizierte Strukturen in entsprechend komplizierter Weise auf eine so traumatische Erfahrung wie den Wechsel von einem Körper zum anderen reagieren werden. Also werden wir behutsam vorgehen. Es sei denn, der unmittelbar bevorstehende körperliche Tod des Vorsitzenden macht eine Notübertragung der Persönlichkeit erforderlich, in welchem Fall wir uns einfach in das Abenteuer stürzen und sehen müßten, was dabei herauskommt. Natürlich wären wir nicht begierig, das zu tun.«
»Natürlich nicht«, sagt Schadrach ironisch.
»Es ist uns lieber, in geordneter Weise nach wissenschaftlichen Kriterien vorzugehen. Eine Experimentierphase mit menschlichen Versuchspersonen und dann, wenn alles glatt geht, werden wir nach Möglichkeit zwei oder drei vorläufige Verpflanzungen des Vorsitzenden durchführen, bevor wir…«
»Was?«
»Ja. Wir wollen die Aufzeichnung seiner Persönlichkeitsstruktur zunächst auf mehrere provisorische Wirtskörper übertragen, um herauszukriegen, wie der Vorsitzende nach der Verpflanzung reagiert, welche Anpassungen erforderlich sein mögen, um…«
»Und was sollt ihr mit diesen zusätzlichen Vorsitzenden machen?« fragt Schadrach. »Sicherlich ist es praktisch und nützlich, einen Vorrat von ihnen zu haben, aber wenn sie alle zugleich anfangen, Befehle zu erteilen, könnten wir…«
»Ach nein«, sagt Crowfoot abwehrend. »Wir haben nicht vor, diesen experimentellen Wirtskörpern die übertragene Persönlichkeitsstruktur zu belassen. Diese Art von Vorsorge oder Vorratshaltung, oder wie immer man es nennen will, ist hier absolut nicht erwünscht. Wir werden die Versuchspersonen nach dem Experiment einer vollständigen Persönlichkeitstilgung unterziehen.«
»Ich verstehe. Ja. Vorausgesetzt, die Versuchsperson wird euch lassen.«
»Wie meinst du das?«
»Vergiß nicht, ihr werdet nicht mit hilflosen Lakaien oder Anstaltsinsassen zu tun haben, sobald ihr eure Übertragung gemacht habt; ihr werdet es mit Dschingis Khan II. Mao zu tun haben, der in einem neuen Körper stecken wird. Ihr werdet euch gegen den beherrschenden Geist dieses Zeitalters durchsetzen müssen, wenn er auch alt und paranoid geworden ist. Das könnte euch Schwierigkeiten machen.«
»Das glaube ich kaum«, erwidert Nicki. »Wir werden Vorsichtsmaßnahmen treffen. Hier entlang.«
Sie führt ihn weiter zu dem breiten Bedienungspult einer großen EDV-Anlage. Schadrach sieht graugrüne Metallschränke, davor einen mit Knöpfen, Kontrollleuchten, Skalen, Bildschirmen, Eingabetastaturen und allerlei unverständlichen Vorrichtungen übersäten Bedienungsstand. Hier, so erklärt sie, sei die kodierte Persönlichkeit des Vorsitzenden gespeichert, alles, was bisher aufgezeichnet worden sei, eine nahezu vollständige Rekonstruktion, die auf Reize und Herausforderungen genauso reagieren kann, wie der lebendige Vorsitzende es tun würde, und zwar mit einer Wahrscheinlichkeit von sieben oder acht Dezimalstellen. Sie macht sich erbötig, die persönlichkeitstypische Art der Rekonstruktion anhand eines schnellen Durchlaufs zu demonstrieren, aber Schadrach, plötzlich entmutigt, zeigt wenig Interesse; sie führt ihn weiter zu einem der anderen Wunderdinge, auf das er nicht enthusiastischer reagiert, und als ob sie endlich bemerkt hätte, daß er aufgehört hat, Begeisterung für ihre technologischen Wunder zu heucheln, geleitet sie ihn in ihr Privatbüro und sperrt die Tür ab.
Sie stehen einander gegenüber, weniger als einen Meter auseinander, und er verspürt jähe überraschende Erregung. Die Intensität verblüfft ihn. Als er entdeckte, wie sie ihn verraten hatte, glaubte er, alles Verlangen nach ihr sei für immer von ihm gewichen. Aber nein. Es ist noch da, so stark wie eh und je. Die Verlockung ihres schlanken, lohfarbenen Körpers, die Erinnerung an ihren Duft, das Glitzern ihrer großen dunklen Augen… Seine Indianerprinzessin. Selbst jetzt fühlt er sich zu ihr hingezogen, selbst nachdem er weiß, daß sie ihn ohne ein Wimpernzucken opfern und auslöschen wird. Er hört auf, die nüchterne Wissenschaft in ihr zu sehen, die mit Erfindungsreichtum und Fleiß sein Verderben betreibt; er sieht nur die schöne, leidenschaftliche, unwiderstehliche Frau. Er fühlt die Anziehung ihres Körpers und merkt, daß sie die Anziehung des seinigen fühlt.
Nun, eine so große Überraschung sollte es nicht sein. Schließlich sind sie vier Monate lang Liebende gewesen; überdies sind sie allein, die Tür ist abgesperrt. Warum sollte des Verlangen nicht trotz allem über sie kommen? Dennoch erscheint ihm der unvermittelte Übergang zur Erotik vor diesem Hintergrund von Verrat, Niedergeschlagenheit und drohendem Verhängnis einigermaßen grotesk und unpassend.
Er gibt vor, nichts zu empfinden. Er rührt sich nicht von der Stelle.
»Wie kommst du zurecht, Schadrach?« fragt sie nach einer kleinen Weile in zärtlichem Ton. »Ist es sehr schlimm?«
»Ich halte durch.«
»Hast du Angst?«
»Ein wenig. Mehr Zorn als Angst, denke ich.«
»Heißt du mich?«
»Ich hasse niemanden. Ich bin kein Hasser.«
»Ich liebe dich noch immer, weißt du.«
»Hör bloß damit auf.«
»Wirklich. Das ist es ja, was mich seit Wochen quält.«