Zum ersten Mal seit längerer Zeit schläft er tief und ruhig, als habe die Aussicht auf die bevorstehende Reise seine Nerven beruhigt. Am frühen Morgen erwacht er, macht seine Freiübungen, packt seinen Koffer. Er beschließt, mit leichtem Gepäck zu reisen.
Mit Abschiednehmen hält er sich nicht auf. Kurz nach Sonnenaufgang verläßt er das Gebäude, winkt einem Taxi und wird zum Flugplatz gefahren.
2. Juni 2012
Ich erzählte ihm schließlich doch von den Stimmen. Trotz früherer Beschlüsse. War es ein Fehler? Aber er nahm mich nicht ernst. Die Frage ist, nehme ich mich ernst? Vielleicht sind die Stimmen Symptome einer ernsten geistigen Zerrüttung. Aber waren die Heiligen und Propheten dann auch Verrückte? Die Stimmen kommen und wispern mir zu. In Krisenzeiten sind sie immer gekommen. Am deutlichsten hörte ich sie während des Viruskriegs. Eine Stimme sagte, ich bin Temudschin Dschingis Khan, und du bist mein Sohn, du sollst Dschingis II. sein. Eine Stimme wie Donner, obwohl er nur flüsterte. Und ich bin Mao, sagte eine andere Stimme. Du bist mein Sohn und Vollstrecker, sagte Mao, und du sollst Mao II. sein. Aber wir hatten bereits einen Mao II. einen bösartigen kleinen Feigling, der sein Land mit der größenwahnsinnigen Nachäfferei einer bankrotten Industrialisierungspolitik schädigte, und es gab sogar einen Mao III. der kurz vor Ausbruch des Viruskrieges vorübergehend zur Macht gelangte, also antwortete ich Mao, er sei hinter der Zeit zurück, es sei zu spät für mich, um Mao II. zu sein, ich müsse Mao IV. werden. Er hatte dafür Verständnis und überließ es mir, wie ich mich benennen wollte. So erwählten und ernannten mich meine Stimmen, und in der Folgezeit haben sie mich angeleitet. Ist es ein Zeichen schizoider Verwirrung, körperlose Stimmen zu hören? Es könnte sein. Bin ich dann schizoid? Meinetwegen. Aber ich bin Dschingis Khan II. Mao, und ich herrsche über die Welt.
20
Schadrach erfährt, daß an diesem Tag keine Flüge nach Jerusalem, Istanbul, Rom oder sonstigen Zwischenlandeplätzen zu diesen Zielorten abgehen. Im Laufe des Tages gehen Flüge nach Peking und San Francisco, aber Peking ist Ulan Bator zu nahe, und er braucht jetzt einen totalen Szenenwechsel. San Francisco liegt im Hinblick auf den Rest seiner Reiseroute ungünstig. Aber es gibt noch am Morgen einen Flug nach Nairobi. Irgendwie hatte Schadrach nicht daran gedacht, Nairobi oder eine andere schwarzafrikanische Stadt zu besuchen, trotz der vage empfundenen Bande zur Urheimat. Aber Spontaneität, so sagt er sich, ist gut für die Seele. Die Vorstellung, nach Nairobi zu fliegen, erscheint ihm auf einmal reizvoll, und da noch Plätze frei sind, folgt er dem Impuls und geht ohne Zögern an Bord.
Er hat die Mongolei seit zweieinhalb Jahren nicht verlassen. Damals hatte der Vorsitzende ziemlich unerwartet beschlossen, einen groß aufgezogenen Kongreß der nationalen Revolutionsräte zu präsidieren, der im heruntergekommenen alten Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York stattgefunden hatte. Schadrach war damals noch nicht der Leibarzt des Vorsitzenden gewesen — ein schlauer, diplomatischer portugiesischer Internist namens Teixeira hatte diesen Posten gehabt —, aber eben dieser Teixeira war an Leukämie erkrankt, und in den Monaten bis zu seinem mit Fassung erwarteten Tode hatte er Schadrach als seinen Nachfolger eingearbeitet. Der Kongreß aber — und die weite Flugreise — hatten den betagten Vorsitzenden so sehr angestrengt und erschöpft, daß er Ulan Bator mit seiner gesunden, trockenen Höhenluft seither nicht verlassen hat. Gleiches galt bis zum heutigen Tag für Schadrach; aber nun blickt er durch das runde Fenster des spartanisch eingerichteten Passagierabteils einer Transportmaschine und sieht die Eintönigkeit der frühlingsgrünen mongolischen Steppe in der Tiefe versinken. Noch heute wird er in Afrika sein.
Afrika! Schon verschwimmen und verblassen die telemetrischen Signale vom Vorsitzenden, als Schadrach sich der Tausend-Kilometer-Grenze nähert. Er fängt noch immer Daten auf, schwächliche Signale der eingepflanzten Empfänger, aber es wird immer schwieriger, sie in verständliche Analogien der Stoffwechselprozesse des Vorsitzenden umzusetzen. Dschingis Khan II. Mao, seine Nieren, seine Leber und Bauchspeicheldrüse, sein Herz, seine Arterien und Eingeweide sind weit entfernt und werden zunehmend unwirklich. Und bald darauf hören die Signale ganz auf, sinken unter die Wahrnehmbarkeitsschwelle und lassen Schadrach plötzlich mit seinem eigenen Körper allein. Diese Stille! Diese Abwesenheit aller Signale und Impulse! Er hatte vergessen, wie es ohne diesen ununterbrochenen Informationsfluß durch sein Bewußtsein ist, und anfangs fühlte er sich beinahe beraubt, als ob er eines seiner wichtigsten Sinnesorgane verloren hätte. Dann beginnt die innere Stille normal zu erscheinen, und er entspannt sich.
Das Flugzeug ist breit und hat eine geräumige Passagierkabine, deren einfach ausgestattete Sitze nicht nach ökonomisch raumsparenden Gesichtspunkten eingebaut wurden und daher viel Beinfreiheit lassen. Es ist kein neues Flugzeug; Schadrach schätzt sein Alter auf zwanzig Jahre. Viele Industrien sind seit dem großen Krieg verschwunden, und die Flugzeugindustrie gehört dazu. Die enorm reduzierte Bevölkerung der Nachkriegszeit und die radikal veränderten Lebensbedingungen haben den privaten Reiseverkehr auf längeren Strecken praktisch zum Erliegen gebracht. Ein einziges Kombinat kann jetzt den Weltbedarf an Flugzeugen dekken. Doch obwohl ein Vergleich mit der überfüllten und hektischen Welt der 1980er Jahre, als das alte Industriesystem — schon von ernsten Verknappungen und Umwälzungen bedroht — seine letzte Periode konvulsivischer Expansion erlebte, kaum mö glich ist, haben der Krieg und die Organzersetzung den technologischen Fortschritt nicht auf allen Gebieten zum Erliegen gebracht: in Schadrachs Zeit gibt es bemerkenswerte Vervollkommnungen auf den Gebieten des öffentlichen Nahverkehrs, des Kommunikationswesens und der sozialen Dienstleistungen. Daß gegenüber den alten Tagen ein totaler Bruch stattgefunden hat, ist freilich nicht zu übersehen. Zwei Drittel der früheren Erdbevölkerung sind umgekommen, und der Rest lebt unter einer neuen, vereinheitlichten politischen Struktur. Hinzu kommt, daß es eine schrumpfende Gesellschaft ist, weiter dezimiert von der Seuche der Organzersetzung und bedrückt von einem Gefühl der Stagnation und Vergeblichkeit, das zu zerstreuen der Regierung trotz aller Bemühungen nicht gelingen will.
2. Juni, Fortsetzung
Wenn der Vorsitzende — den man mit einigem Recht Weltherrscher nennen kann — eine schizoide Persönlichkeit entwickelt, liegt der Gedanke nahe, daß dies ernste Folgen für die Masse der Bevölkerung hat. Mein eingehendes Studium der Geschichte hat mich zu der Überzeugung gebracht, daß die Völker zu allen Zeiten die Herrscher bekamen, die sie verdienten. Ein Herrscher spiegelt den Geist seiner Zeit wider und verkörpert so die Wünsche und Hoffnungen seines Volkes. Hitler, Napoleon, Attila, Augustus, Chin Shi Huang Ti, Dschingis Khan, Robespierre: keiner von ihnen war ein Unfall oder eine Anomalie, alle waren organische Auswüchse der Bedürfnisse der Zeit. Selbst wenn ein Herrscher seinen Willen einem Volk durch Eroberung aufzwingt, wie ich es nicht getan habe, drückt sich darin der historische Imperativ aus: das betreffende Volk wollte erobert sein, bedurfte der Eroberung, sonst wäre es ihm nicht zugefallen. Und wie in jenen Zeiten, so auch jetzt. Schizoide Zeiten verlangen nach einer schizoiden Regierung. Die Völker der Welt leiden und sterben an der Seuche der Organzersetzung; ein Gegenmittel existiert, kommt aber aus diesem oder jenem Grund nicht zur allgemeinen Verteilung; die Weltbevölkerung findet sich mit dieser Situation ab. Ich definiere das als Wahnsinn. Natürlich reicht die Produktion nicht aus, um das Gegenmittel auf breiter Front einzusetzen, und es ist wahr, daß die Herstellung umständlich und teuer ist, und daß alle Versuche, billigere Produktionsverfahren zu entwickeln, bisher erfolglos geblieben sind. Aber wer ehrlich ist, muß sich eingestehen, daß mehr hätte getan werden können. Wir bieten den Leuten Hoffnung, aber keine Injektionen, und dies scheint ihnen gegen alle Erwartung irgendwie Kraft zu geben. Wahnsinn. Eine Menschheit, die sich selbst mit tödlichen Viren zerstört, ist wahnsinnig; da ist es dann nur passend, daß auch ihr oberster Führer wahnsinnig ist.