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Aber bin ich es? Ich habe mich heute eingehender mit den Symptomen der Schizophrenie beschäftigt und zu diesem Zweck Doktor Mordechais medizinische Bibliothek konsultiert. Ich habe darin einen Text gefunden, der sagt, zwei der häufigsten Symptome seien Selbsttäuschungen und Halluzinationen. »Eine Selbsttäuschung«, heißt es da, »ist ein beharrlich verteidigter Glaube, der im Gegensatz zu der Wirklichkeit steht, wie sie von den meisten Menschen wahrgenommen wird, und von logischen Argumenten nicht entkräftet werden kann. In der Schizophrenie kommen Selbsttäuschungen häufig als Größenwahn oder Verfolgungswahn vor: der Schizophrene kann beispielsweise der Überzeugung sein, er sei Jesus Christus, oder er sieht sich als das Objekt der weltweiten Suche einer geheimen Organisation.« Ich habe niemals geglaubt, daß ich Jesus Christus sei. Ich glaube aber mit großer Überzeugung, daß ich Dschingis Khan II. Mao bin. Ist dieser Glaube Selbsttäuschung? Ich glaube vielmehr, daß dieser Glaube mit der Wirklichkeit übereinstimmt, wie sie von den meisten Menschen wahrgenommen wird. Ich glaube, daß mein Glaube auf realen Voraussetzungen beruht. Ich glaube, daß ich wirklich von Dschingis Khan II. Mao bin, oder zumindest geworden bin, und daß dieser Glaube daher nicht schizophren ist und keine Selbsttäuschung darstellt. Andererseits glaube ich auch, daß ich in unmi ttelbarer Gefahr der Ermordung schwebe, daß es eine weltweite Verschwörung gegen mein Leben gibt. Schizoide Selbsttäuschung? Aber Mangu ist wirklich und wahrhaftig tot. Sie haben ihn aus einem Fenster gestoßen. Bilde ich mir Mangus Tod ein? Nein. Er ist zweifelsfrei tot. Deute ich seinen Tod falsch? Ich weiß, daß es in meiner Umgebung Menschen gibt, die glauben, er habe Selbstmord verübt. Dies ist Selbsttäuschung. Mangu wurde ermordet. Seine Mörder können jederzeit kommen, um mir das gleiche Schicksal zu bereiten. Trotz aller Sicherheitsvorkehrungen. Ist das Selbsttäuschung? Dann akzeptiere ich meine Selbsttäuschung, wie es meiner Stellung in der Geschichte zukommt. Und wenn die Gefahr real ist, wie klug ist es dann von mir, mich hinter den elektronisch gesteuerten Sperren zu verbarrikadieren!

Aber fahren wir fort. Halluzinationen. »Eine Halluzination ist eine Sinneswahrnehmung, die nicht ›real‹ ist. In der Schizophrenie nehmen Halluzinationen am häufigsten die Form von Stimmen an.« Aha! »So mag ein Patient von Stimmen gequält werden, die ihm befehlen, aus einem Fenster zu springen, oder ihn gräßlicher springen, oder ihn gräßlicher Verbrechen beschuldigen.« Was soll das heißen? Könnte Mangu auch Schizoid gewesen sein? Nein, nein. Das ist auf ihn nicht anwendbar. Mangu war nicht intelligent genug, um Schizoid zu sein. Ich bin derjenige, der Stimmen hört, und meine Stimmen raten mir nicht zu Verrücktheiten. »Zuweilen besteht die Halluzination lediglich aus Geräuschen oder einzelnen Wörtern, oder der Patient glaubt seine Gedanken zu hören. Andere Formen der Halluzination schließen furchterregende Visionen, seltsame Gerüche und unerklärliche körperliche Empfindungen mit ein.«

Ich denke, das ist auf mich anwendbar. Ist es so, dann akzeptiere ich es bereitwillig. Aber da steht noch mehr. »Selbsttäuschungen und Halluzinationen sind nicht auf die Schizophrenie beschränkt«, heißt es da. »Sie können in einem weiten Bereich organisch bedingter Zustände vorkommen (z. B. bei Gehirnhautentzündungen, Infektionen des Gehirns oder verminderter Blutzufuhr im Gehirn infolge arteriosklerotischer Veränderungen).« Ist das die Erklärung? Wenn Vater Dschingis mir etwas zuflüstert, sollte das nichts weiter sein, als ein Defekt in meinem Gehirn? Sollte am Ende gar eine verstopfte Arterie bewirken, daß Mao mir ins Ohr wispert? Es wäre ratsam, mit Mordechai darüber zu sprechen, wenn er zurückkehrt. Er sorgt sich um meine Arterien. Vielleicht wird er eine weitere Verpflanzung empfehlen. Schließlich habe ich noch immer die meisten meiner ursprünglichen Adern, und die werden alt und brüchig. Was bin ich jetzt, siebenundachtzig? Neunundachtzig, dreiundneunzig? Ja, vielleicht dreiundneunzig. Es ist schwierig, die Zahlen richtig zu behalten. Jedenfalls alt, sehr alt.

Großer Vater Dschingis, bin ich alt.

In Nairobi ist die Luft klar, trocken und kühl, ganz und gar nicht tropisch, obwohl die Stadt beinahe am Äquator liegt, ungefähr auf einer Breite mit dem feuerspeienden Cotopaxi und dem verwüsteten Quito. Auch Quito, hoch im gebirgigen Andenvorland gelegen, war angenehm kühl, aber das ist nur eine Traumerinnerung, eine transtemporale Illusion. Während Schadrach jetzt tatsächlich und wirklich in Nairobi ist. »Wir sind hier hoch über dem Meeresspiegel«, erklärt der Taxifahrer. »Hier wird es nie zu heiß.« Der Mann ist freundlich und gesprächig, ein Kikuyu, wie er seinem Fahrgast unaufgefordert mitteilt. Er trägt eine Sonnenbrille und eine blaue Uniform, die aussieht, als ob er sie von seinem Vater geerbt hätte. Er scheint gesund zu sein, was Schadrach ein wenig überrascht, der halb erwartet hatte, alle Bewohner der Welt außerhalb von Ulan Bator mit Organzersetzung behaftet zu sehen. »Ich spreche sechs Sprachen«, verkündet der Fahrer. »Kikuyu, Massai, Suaheli, Deutsch, Französisch, Englisch. Sie sind Engländer?«

»Amerikaner«, sagt Schadrach, obwohl diese Etikettierung sich in seinen eigenen Ohren merkwürdig ausnimmt. Aber was soll er sonst antworten? Mongole?

»Amerikaner? Ah! New York? Los Angeles? Früher, vor meiner Zeit, kamen viele Amerikaner hierher. Vor dem Großen Krieg, wissen Sie. Dieses Flugzeug, mit dem Sie kamen, war riesengroß und immer voll — all diese Amerikaner! Die kamen, um die Tiere zu sehen, müssen Sie wissen. Draußen im Busch. Mit Kameras. Aber das gibt es nicht mehr. Amerikaner kommen schon lange nicht mehr hierher. Niemand kommt her.« Er lacht. »Andere Zeiten, jetzt. Schwere Zeiten. Aber nicht für die Tiere. Für die Tiere sind es gute Zeiten. Sehen Sie dort, neben der Straße? Eine Hyäne. Direkt am Straßenrand!«

Ja, Schadrach sieht ein struppiges, bedrohlich aussehendes Tier am Straßenrand auf den Keulen sitzen. Es erinnert ihn an einen plumpen, kleinen Bären. Der Taxifahrer erzählt ihm, daß es überall wilde Tiere gebe, wie ganz früher. Strauße wanderten durch Nairobis Hauptstraßen, Löwen und Geparde machten die halb ausgestorbenen Vororte unsicher, Gazellenherden verirrten sich auf das Universitätsgelände am Stadtrand. »Weil es nicht mehr viel Menschen gibt«, sagt er. »Und die meisten von ihnen sind krank. Es wird nicht mehr viel gejagt. Letzte Woche kam ein großer Elefant bis zum ehemaligen Stanley-Hotel und riß Äste von dem alten Dornbaum, der davor steht. Sehr alter Dornbaum, sehr berühmt. Sehr großer Elefant.« Natürlich. Nun, da die Weltbevölkerung auf den Wert des frühen neunzehnten Jahrhunderts zurückgegangen ist, beginnt sich die verwüstete Natur allmählich zu erholen, und die Tiere fangen an, sich wieder auszubreiten. Der Viruskrieg hat sie unbehelligt gelassen, sogar die dem Menschen am nächsten verwandten Primaten: der todbringende Virus war für den Menschen maßgeschneidert.