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Auf der Fahrt in die Stadt sieht er weitere Tiere, zwei atemberaubend schöne Zebras, ein paar Warzenschweine und ein Rudel buckliger Antilopen; das sind Wildebeeste, klärt ihn der Fahrer auf. Dieses Wiederaufleben der Natur erfreut Schadrach, aber Traurigkeit mischt sich in die Freude; wenn Wildebeeste in den verfallenden Vorstädten grasen und auf den halb verödeten Straßen der Innenstadt Gras wächst, ist das so, weil die Zeit des Menschen sich ihrem Ende zuneigt, und damit kann Schadrach sich noch nicht abfinden.

Tatsächlich wächst auf den Straßen Nairobis nicht allzu viel Gras, wenigstens nicht auf dem breiten, großzügigen Boulevard, auf dem sie in die Stadt rollen. Die flammende Pracht blühender Stauden und Büsche auf allen Seiten. Nach dem herben, einfarbigen Ulan Bator ist Nairobi eine Augenweide. Rote, purpurne und orangefarbene Bougainvilleen ergießen sich in Kaskaden über jede Mauer; niedrige Sträucher mit lavendelfarbenen Blüten überwuchern die Verkehrsinseln, und an Straßenecken stehen dicke, vielarmige Aloebäume. Schadrach identifiziert Hibiskus und Jacaranda, aber die meisten Büsche und Bäume, die Straßen und Gärten mit den bunten Farben ihrer Blüten überschütten, sind ihm unbekannt. Die Wirkung ist fröhlich und unerwartet bewegend: wer kann in einer Welt, die soviel Schönheit bietet, Verzweiflung fühlen? Aber in diesen Augenblicken staunender Freude über die Fülle des blühenden Grüns kommt sofort ihre Negation, denn Schadrach muß sich die Frage vorlegen, wie wir, in diese schöne Welt entlassen, es fertig bringen konnten, soviel davon zu ruinieren und unter Schmutz und Häßlichkeit zu begraben. Nichtsdestoweniger weckt diese heitere und ruhige Stadt mehr freudige als traurige Empfindungen in ihm.

Das altersschwache Taxi rollt durch wenig belebte, baumbestandene Straßen zum einzigen Hotel, dem früheren Hilton, einem bejahrten, höhlenartigen Bau, wo er der einzige Gast zu sein scheint. Das Hotelpersonal behandelt ihn mit außerordentlicher Ehrerbietung, als wäre er ein Minister. Sie wissen, daß er in der Hauptstadt lebt und einen Regierungsausweis hat; wahrscheinlich schließen sie daraus, daß er ein Mitarbeiter und Vertrauter des Vorsitzenden sein müsse, was in einer Weise zutrifft, obwohl er mit Regierungsgeschäften überhaupt nichts zu tun hat. Es ist offensichtlich, daß sich selten eine Person mit Regierungspaß nach Nairobi verirrt. Im Korridor und im Foyer des Hotels halten die Bediensteten in ihrer Arbeit inne, wenn er vorbeigeht, drehen die Köpfe und blicken ihm nach. Sie flüstern untereinander, nicken und zeigen auf ihn. Lebt man jahraus, jahrein im Schatten des Vorsitzenden, seinen Launen und Einfällen unterworfen, so ist es überraschend zu bemerken, daß man selbst auch eine Person ist, eine Persönlichkeit sogar, und nicht bloß ein Anhängsel des Vorsitzenden.

Beim Durchschlendern der Stadt macht er eine weitere Entdeckung des Offensichtlichen: alle sind hier schwarz. Oder doch beinahe alle. Er bemerkt einige Chinesen und Inder, offensichtlich Nachkommen der in früheren Zeiten zahlreich Vertretenen asiatischen Händler, dazu einige wenige ältere Weiße, aber sie sind Ausnahmen und fallen hier ebenso auf, wie er in Ulan Bator. Warum sollte ihn das Vorherrschen der schwarzen Hautfarbe hier überraschen? Dies ist Afrika, die Heimat des schwarzen Mannes. Übrigens war es in seiner Kindheit in Philadelphia ähnlich — Weiße wagten sich selten in seine Nachbarschaft, und zumindest in seiner frühen Kindheit schien es ihm selbstverständlich, daß das Getto die Welt sei, daß Schwarz die Norm sei, und daß jene gelegentlich auftauchenden Gestalten mit rosigen Gesichtern, hellen Augen und glattem, lose herabhängendem Haar abnorme Raritäten seien, ähnlich wie die Giraffen in seinem Bilderbuch. Aber dies ist kein Getto. Es ist eine Welt der Schwarzen, wo Polizisten und Lehrer, Delegierte und Feuerwehrleute, Ingenieure und Arbeiter, Ärzte und Bürgermeister schwarz sind, durch und durch schwarz. Brüder und Schwestern überall, und doch ist er von ihnen getrennt, empfindet er nicht Verwandtschaft, sondern Erstaunen über die Universalität der schwarzen Rasse. Er hat sein Leben in der Diaspora verbracht, ist immer Angehöriger einer Minderheit gewesen, der sich anpassen mußte, und hat so einen Teil seiner rassischen Identität verloren. Er ist hier ein Fremder unter Menschen seiner Art, und die innere Entfremdung geht so weit, daß er zweifelt, ob diese Suaheli sprechenden Leute, deren Abstammungslinien unverdünnt von Sklavenhaltergenen sind, als Menschen seiner Art angesehen werden können.

Er macht noch eine Erfahrung des Offensichtlichen: daß Nairobi nicht nur aus schönen, baumbestandenen Boulevards und klarer, erfrischender Luft besteht, nicht nur aus Kaskaden von Bougainvilleen und Hibiskus. Diese Stadt ist, so schön sie sich in ihrer reduzierten neuen Gestalt als stille, ein wenig verschlafene Provinzhauptstadt ausnehmen mag, nichtsdestoweniger ein Teil der großen Traumastation, und Schadrach braucht von seinem Hotel nicht weit zu gehen, um die Leidenden zu finden. Sie schleppen sich durch die Straßen, manche nur fahlgesichtig und träge in den Bewegungen, neue Opfer der Infektion, andere gekrümmt und unsicher gehend, mit glasig benommenem Blick, und einige, die bereits Blut husten, mit Beulen und Geschwüren bedeckte schwankende Gestalten, die Gesichter glänzend von Schweiß. Diese im Endstadium der Seuche dahinsiechenden Menschen schlurfen allein durch die Straßen, Gott allein weiß, warum; gemieden von Leidensgenossen wie von Gesunden, vorwärtsgetrieben von unbegreiflicher Beharrlichkeit, scheinen sie irgendeinem unerreichbaren Ziel nachzutaumeln, bis der endgültige Zusammenbruch ihrem Leiden ein Ende macht. Zuweilen macht ein Seuchenopfer halt und starrt Schadrach an, als ob ihm anzusehen wäre, daß er immun ist, aber die Blicke haben nichts Vorwurfsvolles oder Neidisches: es sind die ruhigen, gleichmütigen Blicke, mit denen man gelegentlich von weidendem Vieh bedacht wird, undeutbar, aber nicht bedrohlich, ohne eine Andeutung, daß sie einen für das Schlachthaus verantwortlich machen.

Anfangs kann Schadrach diesem Blick nicht standhalten. Vor langer Zeit hat man ihn gelehrt, ein Arzt müsse imstande sein, einen Patienten anzusehen, ohne seiner eigenen guten Gesundheit wegen Gewissensbisse zu verspüren, aber dies ist etwas anderes. Sie sind nicht seine Patienten, und er ist nur gesund, weil seine politischen Verbindungen ihm Schutz gewährleisten, der ihnen verwehrt bleibt. Die Organzersetzung interessiert ihn — sie ist das große medizinische Phänomen des Zeitalters, der Schwarze Tod der Neuzeit, die schrecklichste Seuche in der Menschheitsgeschichte, und er studiert ihre Auswirkungen, wo immer er sie antrifft —, aber weder sein Interesse noch seine sachliche medizinische Betrachtungsweise gibt ihm die Kraft, diesen Leuten in die Augen zu sehen. Er wirft ihnen nur schnelle Seitenblicke zu, bis er begreift, daß seine Schuldgefühle irrelevant sind. Es ist den Kranken gleich, ob er sie ansieht oder nicht. Sie sind längst über den Punkt hinaus, wo etwas sie in Wallung bringen kann. Sie erwarten den Tod, ob in ihren Wohnungen oder hier auf der Straße; ihre Leiber sind von der Krankheit wie von Flammen zerfressen, ihr Geist ist umnebelt; was macht es ihnen aus, ob irgendein Fremder stehen bleibt und starrt? Sie sehen ihn an, er sieht sie an. Unsichtbare Barrieren schirmen ihn gegen sie ab.

Dann werden sie plötzlich durchbrochen. Schadrach wendet sich von der immerwährenden Prozession der Verdammten ab, um die Auslage eines staatlichen Kunstgewerbeladens zu betrachten — grotesk anmutende Holzschnitzereien, mit Zebrafellen bespannte Trommeln, präparierte Elefantenfüße als Schirmständer und Papierkörbe, Speere und Schilde der Massai, alle möglichen Gegenstände der Volkskunst und des Folklorekitsches, in einer anderen Zeit massenproduziert für Touristen, die nicht mehr kommen —, und jemand stößt ihn von der Seite an. Er fährt herum, sofort auf der Hut und abwehrbereit. Aber die einzige Person in seiner Nähe ist ein kleiner alter Mann mit welker, kalkig aussehender Haut, in Lumpen gehüllt, weißhaarig und abgezehrt, der wie betrunken schwankt und dazu rasselnde, röchelnde Geräusche von sich gibt.