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Ein Kranker im Endstadium. Die Augen fleckig und trüb, Arme und Beine mit Beulen und aufgebrochenen Geschwüren bedeckt. Die Krankheit frißt sich langsam von innen nach außen durch das Körpergewebe, welches in schwärende Zersetzung übergeht; im allgemeinen wird innerhalb relativ kurzer Zeit ein lebenswichtiges Organ befallen, worauf der Tod eintritt, aber es gibt auch Fälle mehrjährigen Siechtums. Achtzehnjahre sind vergangen, seit der Viruskrieg die Seuche über die Menschheit brachte; Schadrach hat gelesen, daß Fälle bekanntgeworden sind, in denen zwischen Infektion und Tod zehn bis zwölf Jahre verstrichen sind. Dieser Mann sieht wie einer von diesen Fällen aus, aber er kann jetzt nicht mehr lange zu warten haben. Er ist nichts als eine Masse von schwärenden Löchern, zusammengehalten von schwächlichen Strängen lebenden Gewebes.

Er scheint Schadrachs Aufmerksamkeit auf sich lenken zu wollen, ist aber unfähig, vor ihm stehenzubleiben. Wie ein schwer Betrunkener schwankt er mit schlaff hängenden Armen vor und zurück, taumelt seitwärts davon, wendet schwerfällig und kommt wieder. Endlich gelingt es ihm, Schadrach am Arm zu fassen und sich an ihm festzuhalten, immer noch schwankend wie ein Schilfrohr im Wind.

Schadrach macht sich nicht los. Wenn er dem Bedauernswerten schon nicht helfen kann, dann will er ihm wenigstens einen Halt geben.

In einem krächzenden, schrillen Flüsterton sagt der alte Mann etwas, was ihm von größter Wichtigkeit zu sein scheint.

»Es tut mir leid«, murmelt Schadrach, trotz besten Willens unangenehm berührt. »Ich kann Sie nicht verstehen.«

Der alte Mann beugt sich näher, reckt das ausgemergelte Gesicht zu Schadrach empor und wiederholt die Worte mit noch größerer Dringlichkeit.

»Ich spreche nicht Suaheli«, sagt Schadrach bekümmert. »Ist das Suaheli? Ich verstehe nicht.«

Der Alte sucht nach einem Wort; die runzligen Lippen bewegen sich, Konzentration spannt das Gesicht. Ein süßlicher, trockener Geruch geht von dem Mann aus, wie der Geruch von welken Blumen; der Geruch ist weniger unangenehm, als Schadrach erwartet hatte. Ein brandig aussehendes Geschwür in der rechten Wange scheint diese bereits durchfressen zu haben; wahrscheinlich könnte er die Zungenspitze durchstecken.

»Tot«, sagt der alte Mann schließlich in Englisch, und er bringt das Wort wie ein schweres Gewicht hervor, das er Schadrach vor die Füße wirft.

»Tot?«

»Tot. Du mich — machen tot…«

Schadrach starrt den alten Mann entsetzt an. Will er ihm die Schuld an seiner Krankheit geben? Oder bittet er um Euthanasie?

»Du — mich machen tot!« Dann mehr Suaheli, gefolgt von einem angestrengten Husten. Plötzlich kommen dem Alten die Tränen und strömen unvermutet reichlich in tiefen Kanälen zu beiden Seiten der Nase herab. Die Hand an Schadrachs Unterarm löst ihren Griff; der alte Mann steht schwankend, macht eine Anzahl heiser schnalzender Geräusche und wendet sich taumelnd zum Gehen. Schon nach einem Schritt strauchelt er und fällt zu Boden. Schadrach springt geistesgegenwärtig hinzu, kann ihn auffangen und läßt ihn behutsam auf das Pflaster nieder. Der Alte kann nicht mehr als vierzig Kilo wiegen, vermutet er, und hat eine halluzinatorische Vision von einem Schädel und losen Knochen in den zerlumpten Kleidern.

Was nun? Soll er die Behörden verständigen? Wer ist zuständig? Schadrach hält nach Milizionären Ausschau, aber die ohnehin wenig belebte Straße scheint auf einmal wie ausgestorben. Weiter unten spielen ein paar Kinder, da und dort sitzen Gestalten auf den Stufen vor Hauseingängen, aber sie achten nicht auf ihn, und im näheren Umkreis ist niemand. Schadrach fühlt sich für den Sterbenden verantwortlich. Er kann ihn nicht einfach liegen lassen. Auf der Suche nach einem Telefon betritt er den Kunsthandwerkladen.

Der Laden wird von einem dicken alten Inder geleitet, vielleicht dem früheren Besitzer, einem Mann mit großen, melancholischen Augen und dichtem Silberhaar. Anscheinend hat er das Drama beobachtet, denn er kommt Schadrach schon entgegen, schlägt die Hände zusammen und stellt einen Ausdruck tiefsten Bedauerns zur Schau. »Wie unangenehm!« erklärt er. »Einen Besucher unserer Stadt so zu belästigen! Sie sind doch ein Besucher, nicht wahr? Diese Leute haben keinen Anstand, kein Gefühl für…«

»Es war keine Belästigung«, sagt Schadrach ruhig. »Der Mann liegt im Sterben. Er hat keine Zeit, über Anstand nachzudenken.«

»Trotzdem. Einen Fremden zu behelligen, einen Besucher unserer…«

Schadrach schüttelt den Kopf. »Das hat nichts zu sagen. Was immer er von mir wollte, ich konnte es ihm nicht geben, und nun geht es mit ihm zu Ende. Er kann nicht mehr aufstehen. Ich wünschte, ich hätte ihm helfen können. Ich bin nämlich Arzt«, vertraut er dem Mann mit der Hoffnung an, daß die Enthüllung die richtige Wirkung ausüben wird.

Sie tut es. »Ah!« ruft der andere. »Dann verstehen Sie sich auf diese Dinge.« Die Empfindlichkeiten von Ärzten sind nicht wie jene gewöhnlicher Menschen. Der Leiter des Ladens empfindet es nicht länger als peinlich, daß einer seiner schäbigen Landsleute die Geschmacklosigkeit zeigte, seinen Zustand einem Fremden aufzudrängen.

»Was soll mit dem Mann geschehen?« fragt Schadrach.

»Die Miliz wird ihn abholen und in ein Siechenheim bringen.«

»Ich dachte, wir sollten jemanden anrufen.«

Der Inder zuckt die Achseln. »Die Miliz wird vorbeikommen. Im Krankenhaus anzurufen, hätte keinen Sinn, weil solche Opfer dort nicht aufgenommen werden.« Er nickt zur Tür hinaus. »Der kann ruhig noch eine Weile liegen bleiben. Die Krankheit ist ja nicht ansteckend, oder? Das heißt, wer noch gesund ist, hat keine Ansteckung zu befürchten, solange er einen solchen Kranken und dessen Kleider nicht berührt; das ist jedenfalls, was ich gehört habe. Stimmt es nicht?«

»Doch, es stimmt«, sagt Schadrach. Er blickt unbehaglich zu dem Alten hinaus, der wie ein Bündel schmutziger Kleider auf dem Gehsteig liegt. »Vielleicht sollten wir trotzdem anrufen.«

»Die Milizionäre werden bald kommen«, sagt der Inder wieder, und damit scheint der Fall für ihn erledigt zu sein. »Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten? Die Gelegenheit, einen Ausländer zu empfangen, bietet sich nur selten. Ich bin Bhischma Das. Sie sind Amerikaner?«

»Ich bin dort geboren, ja. Ich lebe seit langem im Ausland.«

»Ich verstehe.«

Das eilt in den kleinen rückwärtigen Raum hinter der Kasse, wo er eine Kochplatte und einige Teebeutel hat. Seine Gleichgültigkeit gegenüber dem Sterbenden auf der Straße bekümmert Schadrach weiterhin, aber Das scheint kein unintelligenter oder gefühlloser Mensch zu sein. Vielleicht ist es hier in der Außenwelt Brauch, diesen Erinnerungen an die universale Sterblichkeit so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu schenken.

Wie dem auch sein mag, die Prophezeiung des Inders bewahrheitet sich: tatsächlich treffen schon nach wenigen Minuten drei dunkelhäutige Milizionäre mit einem klapprigen Transportwagen ein. Zwei von ihnen legen den alten Mann auf eine Bahre und schieben ihn durch die Hecktüren in das Fahrzeug; der Dritte späht durch das Ladenfenster, starrt Schadrach lange und aufmerksam an und nickt in einer unergründlichen, seltsam beunruhigenden Art und Weise, dann wendet er sich um, klettert zu seinem Kameraden ins Fahrerhaus, und der Wagen rollt davon.

»Früher oder später werden wir alle an der Organzersetzung sterben, nicht wahr?« sagt Bhischma Das. »Wir und unsere Kinder. Es heißt, alle seien infiziert. Ist das wahr?«

»Wahr, ja«, antwortet Schadrach. Auch er trägt die Mörder-DNS in seinen Genen. Sogar der Vorsitzende. »Natürlich gibt es die Immunisierung…«