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»Wie erfrischend, solchen Optimismus zu hören.«

»Bin ich ein Optimist? Ich habe mich selbst nie als einen gesehen. Ich halte mich für einen Realisten, aber ein Optimist bin ich nicht. Wie seltsam, daß ich mich auf einmal als ein Apostel der Hoffnung und des Zukunftsglaubens wiederfinde!«

»Ihre Augen leuchteten, als Sie von Ihrer Zukunftserwartung sprachen. Sie lebten bereits in jener besseren Welt, als Sie mir davon sprachen. Bitte, ziehen Sie Ihre Prophezeiung nicht zurück. Sie, ein Arzt, glauben, daß wir auf dem rechten Weg sind, der uns in eine glücklichere Zukunft führen wird. Ihre Zuversicht gibt auch mir neue Hoffnung für meine Kinder und Enkel.«

»Zuversicht ist ein großes Wort«, sagt Schadrach nüchtern. »Begnügen wir uns mit der Hoffnung.«

»Sie wissen, daß bessere Zeiten kommen werden.«

»Ich habe keine solche Gewißheit. Vielleicht klang es zuvor so, aber…« Er schüttelt den Kopf, unternimmt eine entschlossene Anstrengung, den unerwarteten Faden positiven Denkens wiederaufzunehmen, der ihm so überraschend in den Sinn gekommen war. »Ja«, sagt er, »es wird besser werden.« Schon klingt es gezwungen, aber er fährt fort: »Keine Entwicklung führt für immer abwärts. Die Organzersetzung kann besiegt werden. Die soviel kleinere Bevölkerung unserer Tage wird angenehm in einer Welt leben können, die nicht mehr imstande war, die vor dem Krieg lebenden Menschenmassen zu erhalten. Ja. Wir müssen dies alles als eine Reinigung sehen, als eine Feuerprobe, eine notwendige Korrektur alter Mißbräuche, die zu besseren Entwicklungen führt. Als ein Morgengrauen nach langer Dunkelheit.«

»Sie sind doch ein Optimist!«

»Vielleicht bin ich es. Manchmal.«

»Es wäre gut, wenn Männer wie Sie uns in diese neue Welt führen würden«, sagt Bhischma Das, mitgerissen von der Vision.

Schadrach hebt in erschrockener Abwehr die Hände. »Nein, nicht ich. Ich möchte in jener Welt leben, ja. Aber verlangen Sie nicht von mir, daß ich sie regiere.«

»Wenn der Zeitpunkt kommt, werden Sie anders darüber denken. Man wird Ihnen einen Platz in der Regierung anbieten, Doktor, weil Sie weise und gut sind, und Sie werden annehmen. Weil Sie weise und gut sind.« Bhischma Das gießt frischen Tee in die Tassen. Sein naives Vertrauen ist rührend. Schadrach schlürft bedächtig-; auf einmal geht ihm eine morbide Vision durch den Sinn, wie Bhischma Das in einem oder zwei Jahren aufspringt und begeistert gestikuliert, wenn der neue Vorsitzende des Permanenten Revolutionsrates zum ersten Mal im Fernsehen erscheint, weil das Gesicht des neuen Vorsitzenden das gutgeschnittene dunkelhäutige Gesicht jenes weisen und guten Arztes ist, der einmal in seinem Laden Tee mit ihm getrunken hat. Schadrach hustet und spuckt und verschüttet fast den Tee in seiner Tasse. Das Gesicht wird das Gesicht von Doktor Mordechai sein, ja, aber der Geist hinter den warmen, forschenden Augen wird der kalte, verdüsterte Geist Dschingis Khans II. Mao sein. Beinahe hätte Schadrach das Projekt Avatara vergessen, an diesem Tag in Nairobi. Beinahe. »Ich muß gehen«, sagt er. »Es ist schon spät, und Sie werden schließen wollen.«

»Bleiben Sie noch eine Weile. Ich habe es nicht eilig.« Nach einem Augenblick fügt er hinzu: »Darf ich Sie zum Abendessen in meine Wohnung einladen?«

»Ich fürchte, das wird nicht möglich sein…«

»Anderweitige Verpflichtungen? Das ist schade. Wir würden Ihnen zu Ehren ein feines indisches Gericht improvisieren. Wir würden eine Flasche guten Wein auftreiben! Einige gute Freunde von mir — die anregendsten Mitglieder der hiesigen indischen Kolonie — Lehrer, Künstler, Wissenschaftler, intelligente Konversation —, ach ja, ein köstlicher Abend, wenn Sie uns die Ehre geben würden!«

Eine Verlockung. Schadrach wird andernfalls in seinem Hotel essen, allem, ein Fremder in dieser fremden Stadt, einsam und in Gefahr. Aber nein: unmöglich. Einer von diesen anregenden intellektuellen Indern wird ihn sicherlich fragen, wo er lebt, welche Art ärztlicher Praxis er ausübt, und dann muß er entweder lügen, was ihm verhaßt ist, oder er muß mit der ganzen Wahrheit herausrücken — Mitglied der privilegierten Elite, Leibarzt des tyrannischen alten Vorsitzenden etc. etc. und soviel für seinen neuen Ruf als humanitärer Wohltäter: die Wahrheit über ihn wird den Freunden von Bhischma Das widerwärtig sein und den armen Das selbst demütigen: Schadrach murmelt aufrichtig klingende Entschuldigungen und Formeln des Bedauerns. Als er sich verabschiedet, begleitet ihn Das zur Tür und sagt: »Dann nehmen Sie wenigstens ein kleines Geschenk von mir an, eine Erinnerung an diese angenehme Stunde.« Er überblickt hastig seine Regale, sucht zwischen den Speeren, Korallen- und Muschelketten, den hölzernen Statuetten, aber alles ist entweder zu primitiv und dürftig, zu billig oder zu groß und ungefüge, um ein passendes Geschenk für einen solchen vornehmen Gast abzugeben, und einen Augenblick scheint es, daß Schadrach ohne Geschenk hinausgehen wird; doch im letzten Augenblick nimmt Das ein kleines Antilopenhorn auf, in dessen spitz zulaufendes Ende ein Loch gebohrt und mit Wachs verstopft ist. Ein Schröpfhorn, erläutert Das, von einem Stamm nahe der südlichen Grenze verwendet, um Schmerzen und böse Geister aus den Körpern der Kranken zu ziehen: man setzt das Hörn mit der offenen Seite an die Haut, saugt die Luft heraus, bis ein Vakuum entsteht, verstopft das Loch mit dem Wachspropfen. Er drängt es Schadrach auf, sagt, es sei ein passendes Geschenk für einen Arzt, und Schadrach nimmt es, nachdem er sich anstandshalber eine Weile geziert hat, mit Freuden an. Er hat keine medizinischen Instrumente aus Ostafrika in seiner Sammlung. »Diese Schröpfhörner werden noch immer verwendet«, sagt Das. »Gerade in dieser Zeit, um den bösen Geist der Organzersetzung herauszuziehen.« Er geleitet Schadrach mit Verbeugungen aus dem Laden, sagt ihm wieder und wieder, welch eine Ehre sein Besuch gewesen sei, wie gut es ihm getan habe, aus dem Munde eines Arztes so hoffnungsvolle Worte zu vernehmen.

Auf dem Rückweg zum Hotel sieht Schadrach vier Tote und Sterbende auf den Straßen liegen.

21

Am nächsten Morgen fliegt er weiter nach Jerusalem. Er blickt auf Länder, Flüsse und Seen hinab, glaubt die Rundung des Planeten unter sich zu fühlen und ist ergriffen von seiner Vielfalt, seinem Reichtum. Diese wunderbare Welt, die Athen und Samarkand trägt, Lhasa und Rangun, Timbuktu, Benares, Chartres, Cent, alle die alten und bedeutenden Kulturdenkmäler der verschwindenden Menschheit und alle die wunderbaren Naturdenkmäler, den Grand Canyon, den Amazonas, den Himalaya, die Sahara — so unendlich viel für einen kleinen kosmischen Klumpen, eine solche Fülle bunter Mannigfaltigkeit. Und alles ist sein — bis der alte Mann in Ulan Bator ihn ruft, daß er die Welt und sich selbst aufgebe.

Anders als Bhischma Das ist er nicht bereit, sich in sein Schicksal zu fügen, wann immer der Marschbefehl eintreffen mag. Die Schönheit der Erde rührt ihn an, er hat so wenig davon gesehen. Es gibt Berge zu ersteigen, Flüsse zu überqueren, Weine zu kosten. Er, der von der Seuche verschont blieb, will nicht dem Unsterblichkeitswahn eines anderen erliegen. Die Passivität ist von ihm abgefallen; er findet sich nicht mehr mit dem Schicksal ab, das ihm zugewiesen wurde. Bhischma Das nannte ihn einen Optimisten, einen weisen und guten Mann, dessen Augen leuchten, der von den besseren Zeiten der Zukunft spricht, und wenngleich Schadrach sich selbst nie so gesehen hat, so ist er doch erfreut, daß Bhischma Das ihn so sah. Es ist angenehm, als ein Mann zu gelten, der Freude verbreitet, der eine Quelle der Hoffnung und des Vertrauens ist. Er probiert die Vorstellung an und findet, daß sie ihm steht. Es ist ein wenig wie Lächeln, wenn einem nicht zum Lächeln zumute ist: man fühlt das Lächeln von den Gesichtsmuskeln tiefer dringen, bis es die Seele erreicht. Warum nicht lächeln, warum nicht in der Hoffnung auf Wiederauferstehung leben? Es kostet nichts. Es macht andere glücklicher. Zeigt sich nachher, daß man sich getäuscht hat, wie es zweifellos der Fall sein wird, so hat man seine Zeit wenigstens in einem warmen kleinen Raum inneren Lichts verbracht, statt in klammer dunkler Verzweiflung.