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Aber es ist schwierig, dem eigenen Optimismus Überzeugungskraft zu verleihen, wenn die Drohung bevorstehenden Unheils über einem schwebt. Schadrach faßt den Entschluß, sich irgend etwas auszudenken, um dem Problem des AvataraProjekts zu begegnen.

8. September 2001

Also bleibt es mir doch erspart, ein Opfer der Organzersetzung zu werden. Heute bekam ich meine erste Dosis von Ronkevics Immunisierung. Es heißt, man sei sicher, wenn der Abstrich keine Spur von aktiven Viren zeige, während die Immunisierung wirkungslos bleibe, wenn der Erreger bereits aktiv und infektiös geworden sei. Meine Abstriche waren sauber: ich bin in Sicherheit. Es mag seltsam klingen, doch ich zweifelte nie daran, daß ich verschont bleiben würde. Es war mir nicht beschieden, im Viruskrieg umzukommen; das Schicksal hatte noch etwas mit mir vor. Ich mußte die allgemeine Katastrophe überleben und in dieser Zeit meine Erfüllung finden. »Sie werden hundert Jahre alt«, sagte Ronkevic heute früh zu mir. Ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen soll; es hieße, daß mir nur noch fünfundzwanzig Jahre blieben. Das ist nicht genug. Nicht genug.

Gleichgültig, was geschieht, ich werde den armen Ronkevic überleben. Er hat bereits die Organzersetzung. Sie frißt in seinen Eingeweiden. Wie hart hat er gearbeitet, um seine Immunisierung zu entwickeln, wie muß er gehofft haben, sich selbst zu retten! Aber es war zu spät. Die Seuche lebte zu früh in ihm auf, und er ist verloren. Er geht, ich bleibe. Er spielt die ihm zugemessene Rolle in dem Drama und verläßt die Bühne, während ich fortlebe, vielleicht für weitere fünfzig Jahre. Meine körperliche Vitalität ist immer außergewöhnlich gewesen. Ohne Zweifel sind meine physischen ebenso wie meine psychischen Energien von einer höheren Ordnung, denn ich bin bereits über die siebzig hinaus und habe die Lebenskraft eines jungen Mannes bewahrt. Ich habe allen Krankheiten und der Müdigkeit des Alters getrotzt. Die Berichte sagen, daß der Vorsitzende Mao, als er über siebzig war, in einer Stunde und fünf Minuten zwölf Kilometer im Yangtse schwamm. Schwimmen interessiert mich nicht; doch ich weiß, daß ich in diesen fünfundsechzig Minuten fünfzehn Kilometer schwimmen könnte, wenn es notwendig würde. Zwanzig könnte ich schwimmen!

Jerusalem ist kälter als Schadrach erwartete — beinahe kühl wie Ulan Bator an diesem Morgen im späten Frühling — und auch kleiner, erstaunlich klein für einen Ort, der soviel Geschichte gemacht hat. Für die im Krieg niedergebrannte Neustadt mit dem Regierungsviertel gab es nach Kriegsende keine Bewohner mehr, und so ebnete man sie größtenteils ein. Als Resultat bietet die biblische Stadt einen Anblick, wie man ihn seit dem neunzehnten Jahrhundert nicht mehr kannte. Schadrach logiert in einem kleinen Hotel beim Karmeliterkloster Et-Tur auf dem Ölberg. Von seinem Balkon genießt er einen prachtvollen Blick auf die ummauerte Altstadt. Ehrfurcht und Nachdenklichkeit erfüllen ihn, als er zum ersten Mal darüber hinblickt. Die zwei mächtigen schimmernden Kuppeln dort hinten — sein Stadtplan sagt ihm, daß die goldene Kuppel dem Felsendom gehört, der sich auf dem Platz von Salomos Tempel erhebt, während die silbrig schimmernde Halbkugel Teil der AI Aqsa-Moschee ist —, und die mit Türmen und Zinnen bewehrte Stadtmauer, die uralten Tore und das Gewirr der Gassen dahinter, alles zeugt von menschlicher Zähigkeit, von den langsamen Gezeiten der Geschichte, dem Kommen und Gehen von Eroberern und Reichen. Die Stadt Davids und Salomos, die von Nebukadnezar zerstört und von Nehemia wiederaufgebaut wurde, die Stadt der Makkabäer und des Herodes, die Stadt, wo Jesus litt und starb, und von den Toten wiedererstand, die Stadt, wo Mohammed in einer Vision zum Himmel auffuhr, die Stadt der Kreuzritter und Pilger, der Legenden und Märchen, wo die Schichten menschlicher Besiedlung und ihrer Geschichte einander so zahlreich und kompliziert überlagern wie an kaum einem anderen Ort — diese kleine Stadt aus lehmbraunem Stein sagt ihm, daß apokalyptische Stunden von solchen der Wiedergeburt und Neuaufbau gefolgt werden, daß kein Unheil ewig währt. Die Stimmung, die ihn überkam, als er mit Bhischma Das zusammen war, hat die Reise von Afrika hierher überlebt. Jerusalem ist wahrhaft eine Stadt des Lichts, eine Stadt der Freude. Jerusalem, die Goldene, die Stadt der Könige und Propheten, und hier steht er vor ihren Toren, zitternd vor Erwartung. Er verläßt das Hotel und wandert den Hang hinab, auf die Mauern zu, die auf dieser Seite wie vor Jahrtausenden die Stadtgrenze bilden.

Aber als er durch das Stephanstor die Stadt betritt und der Via Dolorosa folgt, beginnen sich seine romantischen und verklärenden Träume unerwartet zu verflüchtigen, und er fragt sich, wie er dem biederen Inder so leichtfertig von den kommenden guten Zeiten hatte erzählen können. Mit seinen schmalen, steilen Gassen und ineinander verschachtelten uralten Häusern, den offenen Verkaufsständen und Basaren, wo sich Töpfe und Pfannen, Fische und Äpfel, Backwaren und abgehäutete Lämmer stapeln, mit seinen orientalischen Gerüchen und Gewürzen, seinen hakennasigen alten Arabern ist Jerusalem unleugbar malerisch, aber ein kalter Wind fegt durch die schmutzigen Gassen, und alle, die er sieht, Kinder und Bettler, Händler und Käufer, Lastenträger und Arbeiter scheinen von dumpfer Verzweiflung gezeichnet, von jenem hohläugigen, resignierten Ausdruck, der nicht das Zeichen von ausdauerndem Beharren ist, sondern von erwarteter Niederlage und Schicksalsergebung: die Assyrer kommen, die Römer kommen, die Perser kommen, die Sarazenen kommen, die Türken kommen, die Organzersetzung kommt, und wir werden zerschmettert, werden für immer ausgelöscht werden.

Selbst im Inneren dieser mittelalterlichen Mauern ist es unmöglich, dem einundzwanzigsten Jahrhundert zu entfliehen. Wie er nach Golgatha hinaufsteigt, sieht Schadrach überall das gewohnte Trauerplakat mit Mangus Konterfei, das ernste, kluge Gesicht vor dem leuchtendgelben Hintergrund. Natürlich waren diese Plakate auch in Nairobi angeschlagen, doch in jener weitläufig und luftig angelegten Stadt waren sie, von der allgegenwärtigen Blütenpracht verdeckt und zurückgedrängt, weniger auffällig gewesen. Hier leuchten die Plakate von Torbögen über Durchgängen, die kaum breit genug sind, daß zwei Menschen nebeneinander gehen können, gelbe Leuchtzeichen, denen niemand ausweichen kann. Für Schadrach ist der Anblick eine unwillkommene Erinnerung an eine Welt, der er zu entfliehen sucht, und ihm ist, als hätte sich die Hand des fernen alten Mannes unversehens auf die Stadt gelegt. Wenig später sieht er, daß Dschingis Khan II. Mao noch unmittelbarer gegenwärtig ist: die vertrauten lederigen Züge blikken an allen größeren Straßenkreuzungen von windgeblähten roten Transparenten, flankiert von Parolen in weißen arabischen Schriftzeichen. Die Einheimischen nehmen diese Bilder und Zeichen so gleichgültig hin, wie sie in früheren Zeiten die Anschläge und Banner von Nebukadnezar, Ptolemäus, Titus, Chosroes, Saladin, Suleiman dem Prächtigen und all den anderen fremden Eroberern hingenommen haben mögen, aber Schadrach fühlt sich von diesen vervielfältigten Mongolengesichtern unablässig an die dahinschwindenden Stunden seines Lebens gemahnt.

Hinzu kommt, daß die Seuche auch hier allgegenwärtig ist. Vielleicht nicht so auffallend wie in Nairobi, dessen breite Straßen die mühsam sich dahinschleppenden Gestalten der Kranken unbarmherzig den Blicken preisgaben. Dafür ist das alte Jerusalem zu verwinkelt. Doch auch hier fehlt es nicht an Opfern, die in höhlenartigen Eingängen und auf Stufen kauern und sich wankend die Mauern der Gassen entlangtasten.

In die Hauswände der Via Dolorosa eingelassene Marmortafeln bezeichnen die Kreuzwegstationen: hier nahm Jesus das Kreuz auf sich, hier fiel Er zum ersten Mal, hier begegnete Er Seiner Mutter und so weiter. Und heute schleppen sich diese Todkranken und Sterbenden die Via Dolorosa hinauf, jeder gefangen in seiner eigenen Kreuzigung. Wie in Nairobi starren sie ihn an, ohne daß sie ihn zu sehen scheinen. Nur wenige strecken unauffällig die Hand aus, wenn der gutgekleidete schwarze Mann des Weges kommt. In der neuen Zeit ist Betteln verpönt; die Regierung erhebt den Anspruch, für alle zu sorgen und jedem sein Auskommen zu garantieren. Aber vielleicht wollen die Unglücklichen gar nicht betteln; vielleicht erbitten sie seinen Segen? Dies ist eine Stadt, wo Wunder einst nicht ungewöhnlich waren, und der schwarze Fremdling ist ein Mann von Würde und Haltung: wer weiß, vielleicht wandelt ein neuer Erlöser durch diese Gassen? Doch Schadrach hat keine Wunder zu bieten. Er ist hilflos. Er ist ebenso ein toter Mann wie sie es sind, obgleich er wie ein Gesunder umhergeht.