Er kommt sich allzu auffallend vor, zu groß, zu schwarz, zu fremdartig, zu gesund. Kinder laufen ihm nach, rufen und lachen. Es gibt zu viele Kinder hier, die ihre freien Stunden unbeaufsichtigt verbringen und in Rudeln die Gassen durchstreifen. Viele von ihnen sind Waisen, eine wilde, rohe Generation, die zu früh die Geborgenheit des Elternhauses entbehren mußte. Schadrach hat die demographischen Untersuchungen gesehen: am schlimmsten hat die Seuche sich auf jene Altersgruppe ausgewirkt, die jetzt zwischen fünfundzwanzig und vierzig ist und der auch Schadrach angehört. Es sind diejenigen Menschen, die während des Viruskriegs Kinder waren. Viele von ihnen überlebten die Eltern und wuchsen zu scheinbar gesunden Erwachsenen heran; sie heirateten und setzten Kinder in die Welt, und dann, nachdem sie die Welt mit kleinen Wilden versehen hatten, starben sie. Die Partei hat eine Jugendorganisation gegründet und überall Heime und Lager für diese verlassenen Kinder eingerichtet, aber die bereits verwahrlosten Jugendlichen finden keinen Geschmack an der geforderten Disziplin, und das System leidet unter dem Mangel an Erziehern und vielen anderen Engpässen.
Es ist zuviel für Schadrach — die aufdringlichen Kinder, die in allen Winkeln kauernden und liegenden Kranken, der Schmutz, die ungewohnte Dichte der Bevölkerung, die sich in dieser kleinen ummauerten Stadt drängt. Es gibt keine Möglichkeit, der überwältigenden Traurigkeit des Ortes zu entkommen. Er hätte die Stadt niemals betreten sollen; es wäre weit besser gewesen, wenn er sie von seinem Hotelbalkon aus betrachtet und romantische Gedanken über Salomo und Saladin nachgehangen hätte. Er wird angestoßen, betastet und gerempelt; er bekommt rau und unfreundlich klingende Worte in Sprachen zu hören, die er nicht versteht; er wird von hartnäckigen Schwarzhändlern verfolgt, die ihm seine Kleidung und seine Uhr abkaufen und Silberschmuck und anderes verkaufen wollen. Verdächtig aussehende Gestalten wollen ihn wahlweise zu den religiösen Städten oder zu willfährigen Frauen führen, deren Schönheitsattribute mit drastischen Gesten angedeutet werden. Ohne die Hilfe solcher Führer findet er den Weg zur Grabeskirche, einem schmierigen und unschönen Gebäude, geht aber nicht hinein, denn vor dem Haupteingang streiten Priester verschiedener Sekten, brüllen gegeneinander an, schütteln die Fäuste und werden sogar handgemein, zerren einander an Bärten und Soutanen, zerreißen sich die Chorröcke. Sich abwendend, findet er hinter der Kirche einen geschäftigen Basar — genauer gesagt einen Flohmarkt —, wo die Überreste der untergegangenen Ära zum Verkauf ausliegen: zerbrochene und schadhafte Transistorradios, Fernsehgeräte, Außenbordmotoren, ein Durcheinander von Autobestandteilen, Rädern, Kameras, Elektrorasierern, Telefongeräten, Pumpen und Staubsaugern, von Tonbandgeräten, Taschenrechnern, Mikroskopen, Plattenspielern, Waschmaschinen und Verstärkern, alles verstaubt und mehr oder minder defekt, die Trümmer des verschwenderischen zwanzigsten Jahrhunderts, angespült an diesen seltsamen Strand. Trotz des desolaten Zustands der meisten Waren haben die Händler sich nicht über mangelndes Interesse zu beklagen. Schadrach sieht sich außerstande, zu erraten, welchen Verwendungen diese Überreste und Bruchstücke im palästinensischen Hinterland zugeführt werden mögen.
Er geht in südlicher Richtung weiter und gelangt nach wenigen Minuten zu Stufen, die auf eine freie Fläche hinabführen, einen gepflasterten Platz, dessen Rückseite von einer mächtigen Wand aus riesigen, roh behauenen Steinblöcken eingenommen wird. Schadrach schlendert über den Platz und auf die gigantische Mauer zu und studiert dabei seinen Stadtplan, um die Orientierung wiederzufinden. Er erinnert sich, daß er bei der Zitadelle nach links und später wieder nach rechts abgebogen ist; vielleicht befindet er sich im alten Judenviertel und schon wieder in der Nähe des Felsendoms und der AI Aqsa-Moschee. In diesem Fall…
»Sie sollten an diesem Ort den Kopf bedecken«, sagt eine ruhige Stimme neben ihm. »Sie stehen auf heiligem Boden.«
Ein kleiner, dicker alter Mann ist auf ihn zugetreten. Aus dem gebräunten, gefurchten Gesicht blinzeln kleine Äuglein unter buschigen weißen Brauen zu Schadrach auf. Der Mann trägt eine runde schwarze Judenkappe und zieht nun eine zweite aus der Tasche, um sie Schadrach mit höflicher, aber bestimmter Gebärde hinzustrecken.
»Ist nicht diese ganze Stadt heiliger Boden?« sagt Schadrach, als er die Kappe nimmt.
»Jeder Fußbreit ist jemandem heilig, ja. Die Araber haben ihre heiligen Stätten, die Kopten, die Griechisch-Orthodoxen, die Armenier, die Maroniten, alle. Aber dies ist unsere heilige Stätte. Kennen Sie die Mauer nicht?«
»Die Mauer?« sagt Schadrach verlegen und starrt die großen, verwitterten Steinblöcke an, um dann seinen Stadtplan zu Hilfe zu nehmen. »Ach ja, natürlich. Sie meinen, dies ist die Klagemauer? Ich türlich. Sie meinen, dies ist die Klagemauer? Ich wußte nicht…«
»Nach der Rückeroberung im Jahre 1067, als das Klagen eine Zeitlang aufhörte, nannten wir sie die Westliche Mauer. Jetzt ist sie wieder die Klagemauer. Obwohl ich persönlich nicht so sehr an den Nutzen der Klage glaube, nicht einmal in Zeiten wie diesen.« Der kleine alte Mann lächelt. »Unter welchem Namen sie auch immer erscheinen mag, für uns Juden ist sie ein Allerheiligstes. Der letzte Überrest des Tempels.«
»Ja, richtig. Sie gehörte zu Salomons Tempel, nicht wahr?«
»Nein, diese nicht. Die Babylonier zerstörten den ersten Tempel vor zweitausendsiebenhundert Jahren. Dies ist die Mauer des zweiten Tempels, des Tempels des Herodes, der von den Römern unter Titus dem Erdboden gleichgemacht wurde. Die Mauer ist alles, was die Römer stehen ließen. Wir verehren sie, weil sie für uns ein Symbol nicht nur der Verfolgung ist, sondern der Ausdauer und des Überlebens. Ist dies Ihr erster Besuch in Jerusalem?«
»Ja.«
»Amerikaner?«
»Ja«, sagt Schadrach.
»Das bin ich auch, sozusagen. Aber ich verbrachte dort nur die ersten sechs Jahre meines Lebens. 1948 brachten meine Eltern mich hierher, und seitdem lebe ich in Jerusalem. Für mich ist die Mauer noch immer der Mittelpunkt der Welt. Jeden Tag komme ich hierher. Obwohl es einen Staat Israel nicht mehr gibt, obwohl es überhaupt keine Nationalstaaten mehr gibt, keine Träume, keine…«Er hält inne. »Vergeben Sie mir. Ich rede zuviel. Möchten Sie an der Mauer beten?«
»Ich bin kein Jude«, sagt Schadrach.
»Das macht nichts. Kommen Sie mit mir. Sind Sie Christ?«
»Eigentlich nicht.«
»Haben Sie überhaupt keine Religion?«
»Nein. Aber ich würde mir die Mauer gern aus der Nähe ansehen.«
»Dann kommen Sie.« Sie wandern gemächlich über den Platz. Nach einer Weile sagt der kleine alte Mann: »Übrigens, ich bin Mischach Jakov.«
»Mischach?«
»Ja. Es ist ein Name aus der Bibel, aus dem Buch Daniel. Mischach war einer der drei Juden, die sich Nebukadnezar widersetzten, als der König ihnen befahl…«
»Ich weiß«, sagt Schadrach lachend, »ich weiß! Sie brauchen mir die Geschichte nicht zu erzählen. Ich bin Schadrach!«