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»Wie bitte?«

»Schadrach. Schadrach Mordechai. Das ist mein Name.«

»So, Ihr Name«, sagt Mischach Jakov. Auch er lacht jetzt. »Schadrach Mordechai: das ist ein schöner Name. Ein schöner jüdischer Name. Wie kommt es, daß Sie ihn tragen, obwohl Sie kein Jude sind?«

»Ich bekam den Namen meinem Taufpaten zu Ehren, der genauso hieß und ein Wohltäter meiner Eltern war.«

»Ich verstehe. Also, Schalom, Schadrach!«

»Schalom, Mischach!«

Sie lachen fröhlich über das seltsame Zusamme ntreffen. Schadrach blickt umher. Der Milizionär, der dort drüben steht — ist er am Ende Abdenago? Sie erreichen die Mauer, und ihr Lachen verstummt. Die großen verwitterten Steinblöcke scheinen unglaublich alt, so alt wie die Pyramiden, wie die Arche Noah. Mischach Jakov schließt die Augen, beugt sich vorwärts und berührt die Mauer mit der Stirn, als wolle er sie grüßen. Offenbar betet er. Schadrach hört ihn leise in einer Sprache murmeln, die Hebräisch sein muß. Schadrach kann die Frömmigkeit des Alten nicht teilen. Er betrachtet die raue Oberfläche des Steins, aber er kann nur an die wilden Kinder denken, an die Organzersetzung, die leeren, schicksalsergebenen Gesichter entlang der Via Dolorosa, an die Plakate von Mangu und die Transparente mit dem Bild des Vorsitzenden. Diese Reise ist ein Fehlschlag gewesen. Er hat nichts gelernt, nichts erreicht. Genauso gut kann er morgen nach Ulan Bator zurückkehren und sich dem Unausweichlichen stellen. Doch er verwirft den Gedanken, kaum daß er ihn formuliert hat. Wo ist der Optimismus geblieben, den er beim Tee mit Bhischma Das zur Schau stellte? Er steht vor der Mauer, lauscht in die Stille seines Körpers, die das Fehlen von Signalen des Vorsitzenden ist, und entscheidet, daß die Zeit zur Rückkehr noch nicht gekommen ist. Er wird weitergehen und seine Rundreise vollenden.

Nach seinem Gebet an der Klagemauer lädt Mischach Jakov seinen neuen Bekannten zum Abendessen ein; und Schadrach, der inzwischen bedauert, daß er Bhischma Das’ Einladung abgelehnt hat, nimmt an. Jakov wohnt in Thalbieh, einem der wenigen teilweise erhaltenen modernen Vororte im Westen der Altstadt. Der Wohnblock, Teil eines größeren Komplexes, zeigt das glatte, kalte Gesicht aus Glas und Beton, wie es im späten zwanzigsten Jahrhundert bevorzugt wurde, aber die Zeichen des Verfalls sind überall festzustellen. Die Fenster sind staubig, viele sogar zerbrochen, die Türen schließen nicht, die Balkone sind streifig vom Rost, der Aufzug hat längst den Betrieb eingestellt. Jakov erzählt seinem Gast, daß das Gebäude mehr als zur Hälfte leerstehe. Mit dem Dahinschwinden der Bevölkerung und den verschlechterten Dienstleistungen hätten viele Leute diese einst geschätzte Wohnsiedlung verlassen, um in die Altstadt zu ziehen, wo die Versorgung mit den Gütern des täglichen Bedarfs besser sei als hier draußen. Aber er wohne schon vierzig Jahre hier, sagt er stolz, und er habe vor, auch den Rest seiner Lebenszeit in Thalbieh zu bleiben.

Jakovs Wohnung ist klein, sauber, in einer geschmackvollen, altmodischen Weise kärglich möbliert. »Meine Schwester Rebekka«, sagt er. »Meine Enkelkinder, Joseph und Lea.« Er sagt ihnen Schadrachs Namen, und alle lachen herzlich über die Koinzidenz, die enge biblische Verbindung. Die Schwester ist eine weißhaarige, gutmütige Frau Mitte siebzig, Joseph ungefähr achtzehn, Lea zwölf oder dreizehn. An der Wand sind schwarz eingerahmte Fotografien — Jakovs Frau, vermutet Schadrach, und drei erwachsene Kinder, wahrscheinlich allesamt Opfer der Seuche. Jakov geht nicht darauf ein, und Schadrach fragt ihn nicht.

»Sind Sie Jude?« fragte Lea. Schadrach verneint lächelnd.

»Es gibt aber schwarze Juden«, sagt sie. »Ich weiß es. Es soll sogar chinesische Juden geben.«

»Der Vorsitzende ist ein Jude«, sagt Joseph und bricht in Gelächter aus. Aber er lacht allein. Mischach Jakov wirft ihm einen tadelnden, warnenden Blick zu, die alte Frau macht ein erschrockenes Gesicht, und Lea schaut verlegen drein.

»Rede keinen Unsinn«, knurrt Jakov den Jungen an.

»Es war nicht so gemeint«, protestiert Joseph.

»Dann sei lieber still«, sagt Jakov ärgerlich. Zu Schadrach gewandt, fügt er erläuternd hinzu: »Wir sind hier keine großen Bewunderer des Vorsitzenden. Aber ich möchte über diese Dinge nicht diskutieren. Ich bitte für die Albernheit des Jungen um Entschuldigung.«

»Das ist schon gut«, sagt Schadrach.

»Warum haben Sie einen jüdischen Namen?«

»Unter amerikanischen Negern war es lange Zeit üblich, biblische Vornamen zu tragen«, erzählt Schadrah. »Ich habe einen Onkel, der Absalom heißt. Das heißt, ich hatte. Und ein Vetter von mir heißt Saul.«

»Aber der Nachname«, beharrt das Mädchen. »Der ist auch jüdisch. In Deutschland gab es vor langer Zeit einen berühmten Rabbi namens Mordechai. Wir hörten in der Schule von ihm. Wählen die Schwarzen auch ihre Nachnamen selbst aus?«

»Nein. Im allgemeinen wurden sie uns von unseren Besitzern gegeben. Meine Familie muß einmal jemandem mit Namen Mordechai gehört haben.«

»Gehört?«

»Als sie Sklaven waren«, flüstert Joseph ihr zu.

»Sie waren Sklaven?« sagt das Mädchen erstaunt. »Das wußte ich nicht.«

Schadrach lächelt. »Bis 1.865 waren die meisten Schwarzen in Amerika Sklaven.«

»Und Ihr Besitzer war Jude? Ich kann mir nicht denken, daß ein Jude Sklavenhalter sein würde!«

Schadrach möchte ihr erklären, daß es in den Zeiten der Sklaverei auch Juden gab, die Plantagen besaßen und Sklaven hielten; aber die Diskussion verursacht Mischach Jakov offenbar Unbehagen, und mit einer Abruptheit, die allen weiteren Fragen der Jugendlichen einen Riegel vorschiebt, wechselt er das Thema und fragt seine Schwester, ob das Essen bald fertig sei.

»Fünfzehn Minuten«, sagt sie aus der Küche.

Als beachteten sie eine unausgesprochene Warnung, den Gast in Ruhe zu lassen, ziehen sich Joseph und Lea zu einer Couch auf der anderen Seite des Wohnzimmers zurück und beginnen dort eine gestelzte, gekünstelte Unterhaltung über Schulereignisse — wie es scheint, sollen alle Schulen am Tag von Mangus Staatsbegräbnis geschlossen bleiben, was den beiden sehr gefällt. Lea wiederholt eine Bemerkung, die der Chef des Jerusalemer Revolutionsrates über die Bedeutung des Staatstrauertages gemacht hat und wie es darauf ankomme, dem großen Toten die letzte Ehre zu erweisen, was Rebekka in der Küche mit höhnischem Geschrei und einem schroffen Kommentar zur geistigen Gesundheit des Betreffenden beantwortet, und im Nu entspinnt sich ein lautstarker und unverständlicher Streit über örtliche politische Fragen, an dem alle vier Jakovs in einem wütenden Wettstreit des gegenseitigen Überschreiens teilnehmen. Anfangs versucht Mischach seinem Gast etwas über die zur Diskussion stehenden Leute und den Hintergrund zu erklären, doch bald hat er sich so leidenschaftlich in die Auseinandersetzung verstrickt, daß er seine Erläuterungen vergißt. Schadrach sieht verblüfft und amüsiert zu, wie diese redelustigen Leute sich in den Haaren liegen, bis das Abendessen auf den Tisch gebracht wird und die Diskussion jäh zum Stillstand bringt. Er hat keine Ahnung, worum es bei dem Streit gegangen ist — zuletzt hatte es offenbar mit der Sitzverteilung im Stadtrat zu tun —, aber die Schaustellung von Energie und Engagement muntert ihn auf. In Ulan Bator hat er nie solche wütenden Meinungsverschiedenheiten erlebt; doch mag das nicht so sehr am Grad der allgemeinen Überwachung als vielmehr daran liegen, daß er. zu lange außerhalb des Familienverbands gelebt hat, um sich zu erinnern, was eine temperamentvolle Diskussion ist.

Nach dem Essen, das in friedlicher Atmosphäre verläuft, setzt Schadrach sich mit dem alten Jakov in eine Ecke, um eine Karte der Umgebung zu studieren, denn sie sind während der Mahlzeit übereingekommen, am nächsten Morgen mit einem großen Besichtigungsprogramm zu beginnen: die Altstadt mit ihren Basaren, Moscheen und Kirchen, das angebliche Grab Absaloms im nahen Kidrontal, das Grab Davids auf dem Berg Sion, das archäologische Museum, dann das Provinzialmuseum, wo die Schriftrollen vom Toten Meer verwahrt werden, und…