»Warten Sie, warten Sie«, sagt Schadrach. »Alles das an einem Tag?«
»Nun, dann machen wir es eben in zwei Tagen«, erwidert Mischach.
»Trotzdem. Können wir wirklich in so kurzer Zeit so viel besichtigen?«
»Warum nicht? Sie sehen kräftig und gesund aus. Ich denke, Sie werden mit einem alten Mann Schritt halten können.« Und er lacht behäbig.
22
In Istanbul, einige Tage später, hat er keinen Führer, und er durchwandert allein diese Stadt mit den vielen Gesichtern, verwirrt und niedergeschlagen von den Verzwicktheiten des öffentlichen Stadtverkehrs, die es mühsam machen, von einer Sehenswürdigkeit zur anderen zu gelangen. Sehnsüchtig hoffend, daß irgendein Mischach Jakov ihn hier entdecken werde, irgendein freundlicher Bhischma Das. Aber niemand nimmt sich seiner an. Der Stadtplan, den er im Hotel bekommt, ist nutzlos, denn es gibt nur wenige Straßenschilder, und wann immer er eine der Hauptverkehrsadern verläßt, verläuft er sich in einem Labyrinth name nloser Gassen und Höfe. Es gibt Taxis, doch seit der Viruskrieg und seine Folgen dem Fremdenverkehr ein Ende gemacht haben, scheinen alle Fahrer nur noch türkisch zu sprechen; sie können unmißverständliche Instruktionen wie zum Beispiel ›Hagia Sophia‹ oder ›Topkapi Serail‹ befolgen, aber als er die alten byzantinischen Stadtmauern sehen will, gelingt es ihm nicht, sich verständlich zu machen, und schließlich muß er zu einem Notbehelf Zuflucht nehmen und läßt sich zur Kariya-Moschee in den Außenbezirken der Stadt bringen, um von dort aus zu Fuß die nahe Landmauer zu erreichen.
Istanbul ist schmutzig, archaisch, fremdartig und unübersichtlich. Schadrach ist fasziniert von der Verschiedenartigkeit der Architektur, von den prächtigen osmanischen Palästen und den eleganten Moscheen mit ihren schlanken Minaretten, den malerischen Holzhäusern des achtzehnten Jahrhunderts und den Fragmenten des alten Konstantinopel, die wie zerbrochene Zähne aus der Erde ragen, Bruchstücke von Aquädukten und Zisternen, Basiliken und Stadien. Aber die Stadt ist ihm zu chaotisch. Trotz ihrer herrlichen Lage und des Reizes ihrer wechselvollen Geschichte deprimiert sie ihn. Auch jetzt leben noch mehr als eine Million Menschen hier, und Schadrach findet eine solche Bevölkerungsdichte schwer erträglich, zumal es den Anschein hat, als verbrächten die Bewohner der Stadt ihre Zeit ausschließlich auf der Straße. Er sieht die schon vertrauten Tragödien der Seuchenopfer, und auch hier durchziehen Horden von Halbwüchsigen jagenden Raubtieren gleich die Straßen. Und wohin er sich auch wendet, sieht er wachsame Doppelstreifen von Milizionären. Bald ist er überzeugt, daß sie ihn beobachten. Ist es bloß eine Wahnidee? Er glaubt es nicht. Er glaubt, daß der Vorsitzende, unglücklich über die Abwesenheit seines Leibarztes, ihn ständig beschatten läßt, damit er im Bedarfsfall jederzeit nach Ulan Bator zurückgebracht werden könne. Schadrach hatte keinen Augenblick erwartet, daß es ihm möglich sein würde, völlig unterzutauchen — die Rückkehr nach Ulan Bator ist sogar ein zentraler Punkt seines allmählich Gestalt annehmenden Aktionsplans, obgleich er noch nicht weiß, wann der rechte Augenblick zur Rückkehr kommen wird —, aber die Vorstellung, bespitzelt zu werden, mißfällt ihm.
Nach zwei Tagen in Istanbul, die den üblichen Touristenattraktionen gewidmet sind, fliegt er einem plötzlichen Entschluß folgend nach Rom.
Er verbringt dort eine Woche, nimmt Quartier in einem alten, freundlichen Hotel in der Nähe der Diokletiansthermen. Auch Rom ist dicht bevölkert, und obwohl Automobile selten geworden sind und die Straßen wie in früheren Zeiten von Fuhrwerken und Fahrrädern beherrscht werden, scheint die Stadt von Leben und Geschäftigkeit überzuquellen. Auch scheinen die Narben des Viruskriegs und seiner Folgen hier weniger augenfällig als anderswo, und Schadrach beginnt sich zu entspannen, einem angenehmen mediterranen Lebensrhythmus anheimzufallen: er schlendert durch die prächtigen und die weniger prächtigen, aber immer reizvollen Straßen, schlürft an Kaffeehaustischen Aperitifs, schlägt sich in obskuren Trattorias mit Pasten und jungem Weißwein voll, und alle Ängste und Befürchtungen werden gegenstandslos. Dies ist wahrhaft die Ewige Stadt, fähig, die schwersten Schläge der Zeit hinzunehmen, ohne ihre Widerstandskraft und Geschmeidigkeit einzubüßen. Natürlich besichtigt er die antiken Monumente, den Titusbogen, der an die Eroberung und Plünderung Jerusalems durch die Römer erinnert, die Tempel und Paläste auf dem Kapitol und dem Palatin, das großartige Trümmerfeld des Forums, das geisterhafte Wrack des Colosseums. Er besucht St. Peter und sinnt im Angesicht des Vatikans über das spöttische, scherzhafte Angebot des Vorsitzenden nach, ihn zum Papst zu machen. Er bewundert die Sixtinische Kapelle, die etruskischen Sammlungen in der Villa Giulia, die Borghese-Galerie und ein Dutzend der schönsten Kirchen. Seine Energie scheint zu wachsen, statt zu erschlaffen, während er den unendlich reichen Kunstschätzen Roms nachspürt. Seltsamerweise berühren ihn die schmalbrüstigen, altersgrauen Häuser und das urwüchsige Volksleben in Trastevere mehr als die gefeierten klassischen Monumente. Manche dieser Häuser mögen noch aus römischer Zeit stammen, alle paar Jahrhunderte umgebaut, aufgestockt und renoviert, doch im Kern immer noch so, wie sie schon zur Zeit der römischen Kaiser gewesen sind, und Schadrach erschauert angenehm bei der Vorstellung, daß durch die Torbogen und Gewölbe dieser grauen Türme einst die Untertanen der Tiberius und Caligula ein- und ausgegangen sein mögen. Bei näherer Betrachtung muß er sich jedoch eingestehen, daß seine roma ntische Hypothese wahrscheinlich nicht zutreffend ist. Diese Gebäude stammen eher aus dem zwölften bis vierzehnten, zum Teil wohl erst aus dem siebzehnten Jahrhundert. Alt genug, aber nicht uralt.
Er wünscht, er könne für immer in Rom bleiben. Ein Jammer, denkt er, daß der alte Mann nur scherzte, als er ihm die Papstwürde antrug. Aber nach einer Woche beschließt Schadrach, seine Reise fortzusetzen. Es ist hier zu angenehm, zu bequem; außerdem bemerkt er eines Abends, als er vor seinem Lieblingscafe sitzt, die Wärme genießt und das junge Volk vorbeiflanieren läßt, daß vor dem benachbarten Cafe zwei Milizionäre an einem Tisch sitzen, die weder trinken noch sprechen, sondern ihre ganze Aufmerksamkeit ihm zuwenden. Zieht sich das Netz um ihn zu? Werden sie ihn morgen oder am Tag danach ansprechen und ihm mitteilen, er müsse zu seinem Herrn nach Ulan Bator zurückkehren? Er bucht einen Flug nach London, storniert ihn im letzten Moment und verschafft sich mit Hilfe seines Regierungsausweises einen Platz in einer Maschine, die über den Pol nach Kalifornien fliegt.
Und auf einmal ist er in San Francisco. Eine Spielzeugstadt, weiß und kostbar, die sich auf beachtlichen Hügeln erhebt, umgürtet von einer im Sonnenlicht funkelnden Bucht. Er ist nie zuvor hier gewesen. Komisch, wie er erwartet, daß berühmte Städte gigantisch sein müßten. Diese ist, ähnlich wie Jerusalem, überraschend klein. Würde man sie in Rom niedersetzen oder im weit über Meeresarme und Hügel ausgreifenden Istanbul, so würde sie völlig verschwinden. Eine weitere Überraschung ist das kühle Klima. Kalifornien war für ihn immer mit Vorstellungen von Schwimmbecken und Palmen und immerwährendem Sonnenschein verbunden, aber dieses Kalifornien muß irgendwo anders sein, wahrscheinlich unten bei Los Angeles; San Francisco im Juni zeigt ihm eine seltsame Vorfrühlingsstimmung, mit scharfem, schneidendem Wind und klammen grauen Nebelfeldern, die sich von der See heranschieben und die Stadt einhüllen. Selbst wenn die Sonne den Nebel am Nachmittag auflöst und die Stadt im brillanten Licht unter einem tiefblauen, wolkenlosen Himmel glitzert, bleibt die Kälte des Seewinds in der Luft, und Schadrach zieht in seinem unzureichenden Sommeranzug fröstelnd die Schultern ein.