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Hier gibt es keine alten Paläste zu sehen, keine frei herumlaufenden Gazellen und Strauße, keine mittelalterlichen Stadtmauern oder Barockkirchen. Aber es gibt elegante Straßen mit viktorianischen Häusern, reich geschmückt mit Stuckarbeiten, Schnörkeln und Erkern, und die meisten dieser Gebäude sind wohlerhalten, Veteranen, die Erdbeben, Brände, Aufstände, die biochemische Kriegführung und sogar den Zusammenbruch der Vereinigten Staaten überdauert haben. Überall gibt es Büsche und Bäume, viele davon in voller Blüte; diese Stadt, so windig und kühl sie sich zeigt, ist beinahe so blütenreich wie Nairobi, und Schadrach genießt den Anblick von Bäumen, die in gewaltigen Massen roter Blüten flammen, von mächtigen Baumfarnen und windzerzausten Zypressen, von Hängen, die mit dunklen, duftenden Eukalyptushainen bestanden sind. An einem Tag geht er von der Bucht durch die ganze Stadt zum Ozean, tritt aus einem üppigen, traumhaften Park an die Brüstung einer Promenade und steht am Rand des Pazifik, starrt über ihn hinaus in die Richtung, wo die Mongolei liegen muß. Irgendwo dort erwacht Dschingis Khan II. Mao jetzt aus dem leichten Schlaf des Alters und beginnt mit seinen morgendlichen Übungen. Schadrach fragt sich, wie es um die Nierenfunktionen des alten Mannes bestellt sein mag, seinen Blutdruck, den KalziumphosphatSpiegel und die innere Sekretion. Er gesteht sich ein, daß er die Signale aus dem Körper des Vorsitzenden zu vermissen beginnt. Er vermißt die tägliche Herausforderung, die darin besteht, den unglaublich lebenskräftigen, aber zunehmend anfälligen und verwundbaren Körper des Vorsitzenden funktionsfähig zu erhalten. Möglich, daß er sogar den alten Mann selbst vermißt. Wie seltsam, dunkel und geheimnisvoll sind die menschlichen Empfindungen! Ach, die hippokratischen Zwänge!

Wie geht es dem Vorsitzenden? Er lebt und ist wohlauf, nach der Zeitung zu urteilen, die Schadrach kauft. Es ist die erste, in die er seit Antritt seiner Reise einen Blick geworfen hat, und die Seiten sind übersät mit Aufnahmen von Mangus Staatsbegräbnis, das vergangene Woche mit allem Pomp und dem Zeremoniell von Massenaufmärschen und Spektakeln aller Art begangen wurde. Da ist Dschingis Khan II. Mao selbst, wie er auf der Tribüne steht und einen Vorbeimarsch abnimmt. Da ist er wieder, im Trauerzug hinter der Lafette mit dem Sarg des Toten. Und hier winkt er den Zigtausenden zu, die sich auf dem Sukhe Bator-Platz drängen. Schadrach liest, daß Ulan Bator in Altan Mangu umbenannt werden soll, was soviel wie ›Goldener Mangu‹ bedeutet. Schadrach findet es übertrieben und eher komisch, doch mit der Zeit wird auch er sich an den neuen Namen gewöhnen; der alte, der ›Roter Held‹ bedeutet, war dem Vorsitzenden ohnedies ein Dorn im Auge, weil er einen anderen als ihn bezeichnete.

Die Berichterstattung über das Staatsbegräbnis nimmt mehrere Zeitungsseiten in Anspruch. Kein Präsident der Vereinigten Staaten hätte jemals soviel Publizität erhalten. Zudem hat das Staatsbegräbnis bereits vergangene Woche stattgefunden; haben die Zeitungen seitdem jeden Tag so ausgesehen wie diese? Wahrscheinlich. Das Staatsbegräbnis ist das große Ereignis des Monats, größer als die Nachricht von Mangus Tod, der zu schnell geschah und dem die lineare Ausdehnung in der Zeit fehlte, die wahrhaft bedeutende Nachrichten auszeichnet. Was gibt es auch sonst schon? Daß Menschen an Organzersetzung sterben? Daß der Revolutionsrat verstärkte Anstrengungen zur Verbesserung und Produktionssteigerung der RonkevicImmunisierung ankündigt? Daß der Leibarzt des Vorsitzenden zur Zeit eine ziellose Reise um die Welt macht und dabei in einem Winkel seines wolligen Schädels auf Mittel und Wege sinnt, die Pläne des Vorsitzenden zur Enteignung seines Körpers zu durchkreuzen? Fotos vom Staatsbegräbnis sind viel interessanter als alles das. Soviel Aufhebens von einem Staatsbegräbnis in der Mongolei, und das in einer amerikanischen Zeitung! Schadrach denkt unwillkürlich an den letzten Präsidenten der Vereinigten Staaten zurück — einen Mann namens Williams, wie ihm scheint, oder vielleicht Richards —, und wie sein Begräbnis ausgesehen haben mag. Wahrscheinlich sieben Trauergäste und ein schlammiges Grab an einem regnerischen Tag. (Roberts? Edwards? Der Name ist ihm entfallen und nicht wiederzufinden.) In Schadrachs Kindheit gab es noch Präsidenten der Vereinigten Staaten, sogar einen oder zwei lebende Expräsidenten. Er versucht sich zu erinnern, wer zur Zeit seiner Geburt Präsident war. Ein Mann namens Ford, nicht wahr? Ja, Ford. Schadrach erinnert sich, daß die meisten Leute Ford gern hatten, weil er eine ehrliche Haut war. Vor ihm gab es einen namens Nixon, den die Leute nicht mochten, und einen namens Kennedy, der erschossen wurde, und es gab Leute wie Truman, Eisenhower, Johnson und Roosevelt. Die Führer der Nation, ihre großen Männer. Im letzten Jahr vor der Machtübernahme durch den Permanenten Revolutionsrat hatte es sieben Präsidenten gegeben, davon einige gleichzeitig. Nun, auch im alten Rom hatte es mächtige Kaiser gegeben, und große Männer wie Augustus oder Hadrian wären wahrscheinlich sehr erstaunt gewesen, hätten sie die Qualität und Herkunft von einigen ihrer Nachfolger gegen Ende des Kaiserreichs gekannt: die primitiven Haudegen, die Minderjährigen, die Barbarenhäuptlinge, die Wahnsinnigen und diejenigen, die nach sechs Tagen Regierungszeit von der angewiderten eigenen Palastwache erdrosselt worden waren.

San Francisco ist eine Stadt wie geschaffen zum Spazieren gehen. Die Größenordnung ist bescheiden und menschlich, so daß man ohne sonderliche Anstrengung von einem Stadtviertel zum anderen gehen kann, von den herrschaftlichen Villen der Pacific Heights zur sonnigen, an mediterrane Gestade erinnernden Marina, vom sogenannten Russenhügel zu den Hafenkais oder von der alten Mission zur Haight, begleitet von einer ständig wechselnden und immer angenehmen Abfolge urbaner Bilder. Weder Wind noch Nebel oder die Steilheit mancher Hügel ist in einer solch liebenswürdigen Umgebung ein ernsthaftes Hindernis. Und die Stadt ist lebendig. Es gibt noch immer eine Menge Läden, Restaurants und Cafehäuser. Von den zahlreichen Kirchen und Bethäusern, die im Hafenviertel von konkurrierenden Sekten unterhalten wurden, dient nur noch ein halbes Dutzend dem ursprünglichen Zweck; die übrigen sind geschlossen oder anderen Zwecken zugeführt worden. So gibt es jetzt ein großes Haus, wo man sich dem Traumtod hingeben kann, und auch die Transtemporalisten haben ein Etablissement, welches sich regen Zuspruchs erfreut. Die Menschen auf den Straßen verbreiten die Illusion von Gesundheit und guter Laune, und obgleich Schadrach weiß, daß es nur eine Illusion sein kann, läßt er sich gern von ihr täuschen. Das einzige, was ihm an San Francisco mißfällt, ist die Menge von Milizionären.

Es gibt hier mehr Uniformierte, als er jemals an irgendeinem Ort gesehen hat, mehr sogar als in der Hauptstadt. Es scheint, als sei jeder neunte Bewohner der Stadt Mitglied der Miliz. Vielleicht ist es nur eine Sinnestäuschung seines von Verfolgungswahn bedrängten Bewußtseins, oder vielleicht erfordert die ungewöhnliche Vitalität dieser Stadt ein entsprechend ungewöhnliches Maß an polizeilicher Aufsicht; jedenfalls sind die graublauen Uniformen überall. Meistens sieht man sie in Paaren, nicht selten auch in Gruppen von drei, vier oder fünf Mann. Die meisten haben diesen mechanischkalten, insektenhaften Ausdruck, der vermutlich ein Ergebnis polizeilicher Machtbefugnisse und der Gewalt über andere ist. Und alle beobachten ihn. Es kann nicht bloßer Verfolgungswahn sein. Oder? Diese stahlgrauen wachsamen Augen, hart, dumm, zielbewußt, die ihn von allen Seiten mustern, wenn er die Stadt durchwandert? Warum starren sie ihn so aufmerksam an? Was wollen sie wissen?

Bald werden sie mich verhaften, sagt er sich.

Er zweifelt nicht daran, daß er seit seiner Abreise unter Beobachtung steht. Er ist überzeugt, daß Avogadro über jede seiner Bewegungen informiert ist und dem Vorsitzenden täglich Situationsberichte vorlegt; und — ist es seine eigene wachsende Spannung, die den Anschein erweckt, oder ist es die zunehmende Ungeduld des alten Mannes? — die Intensität der Überwachung scheint zugenommen zu haben, von Nairobi bis Jerusalem, von Jerusalem bis Istanbul, von Istanbul bis Rom, zuerst ein zufällig vorbeischlendernder Milizionär, der ihm einen flüchtigen Blick zuwirft, dann unverhülltere Aufmerksamkeit, dann Doppelstreifen, die ihm folgen, die in seiner Nähe stehen bleiben, die ihn anstarren, beraten, seine Bewegungen aufzeichnen, bis sie — vielleicht in San Francisco, vielleicht erst in Peking — Anweisung aus der Hauptstadt erhalten und ihn festnehmen: Na also, Doktor Mordechai, kommen Sie freiwillig mit, und es geschieht Ihnen nichts…