Und dann, als er an der Ecke Broadway und Grant steht, eben im Begriff, sich nach rechts zu wenden und in das menschenwimmelnde Chinesenviertel hinunterzuschlendern, beschäftigt mit tausend Spekulationen über die drei Milizionäre, die gegenüber am orientalischen Lebensmittelladen beisammen stehen, ruft jemand von der anderen Seite des Broadway seinen Namen:
»Mordechai? He, Schadrach Mordechai!«
Beim Klang seines Namens erstarrt Schadrach, aufgespießt inmitten seiner Verfolgungsfantasie, wissend, daß das Spiel aus ist, daß der gefürchtete Augenblick gekommen ist.
Aber der Mann, der auf ihn zukommt, der sich mit schleppendem Schritt leicht schwankend durch den Verkehr nähert, ist kein Milizionär. Es ist ein stämmiger Mann mit schütterem Haar, müdem, gefurchtem Gesicht und ungepflegtem graumeliertem Bart, der in einem dicken Flanellhemd und einem ausgebeulten grünen Overall steckt. Bei Schadrach angelangt, legt er ihm die Hand auf den Arm, als wolle er damit nicht nur die Aufmerksamkeit des anderen auf sich lenken, sondern zugleich auch Halt suchen. Dabei schiebt er sein Gesicht in einer unverschämten Anmaßung von Intimität so nahe an Schadrachs heran, daß dieser vor Überraschung jede Abwehr vergißt. Die Augen des Mannes sind wäßrig und geschwollen: eines der Symptome von Organzersetzung. Aber er kann noch lächeln. »Doktor«, sagt er. Seine Stimme ist verquollen und einschmeichelnd. »Hallo, Doktor, wie geht’s?«
Ein Betrunkener. Wahrscheinlich nicht gefährlich, obwohl er in Schadrach ein unbestimmtes Gefühl von Bedrohung erzeugt.
»Ich wußte nicht, daß ich hier so berühmt bin.«
»Berühmt, was heißt berühmt? Ja, Sie sind eine verdammte Berühmtheit; wenigstens für mich. Ich sah Sie schon von weitem. Habe Sie gleich wiedererkannt. Nicht, daß Sie sich sehr verändert hätten.« Der Mann ist offensichtlich betrunken. Er hat diese schwerfällige, anbiedernde Freundlichkeit; inzwischen stützt er sich so schwer auf Schadrachs Arm, daß er praktisch daran hängt. »Sie erkennen mich wohl nicht, wie?«
»Sollte ich?«
»Kommt darauf an. Sie kannten mich mal recht gut.«
Schadrach sucht in dem fleischigen, verwüsteten Gesicht. Es kommt ihm irgendwie bekannt vor, aber er kann es nicht mit einem Namen verbinden. »Harvard«, mutmaßt er. »Es muß Harvard gewesen sein. Richtig?«
»Zwei Punkte. Wir kommen der Sache schon näher.«
»Medizinische Fakultät?«
»Wie wär’s mit der Collegestufe?«
»Das ist schwieriger. Das liegt fünfzehn, sechzehn Jahre zurück.«
»Genau. Ich glaube, wir können ruhig Du zueinander sagen. Früher taten wir es.«
Schadrach starrt den Mann mit gerunzelter Stirn an. Er kann dieses Gesicht in seinem Gedächtnis nicht finden. »Also, ich weiß wirklich nicht…«
»Zieh fünfzehn Jahre von mir ab. Und ungefähr zwanzig Kilo.
Und den Bart. Mann, du hast dich überhaupt nicht verändert! Natürlich hast du auch ein leichtes Leben. Ich weiß, was du die letzten Jahre getrieben hast.« Der Mann scharrt unsicher mit den Füßen, dann wendet er sich zur Seite, ohne Schadrachs Arm loszulassen, hustet und spuckt aus. Die Spukke ist blutig. Er grinst. »Wieder ein Stück Lunge. Ich sehe, du erkennst mich wirklich nicht. Warum auch, wir weißen Jungen sehen alle gleich aus.«
»Können — kannst du mir noch einen Tipp geben?«
»Klar. Wir waren zusammen in der Leichtathletikmannschaft.«
»Kugelstoßen!« sagt Schadrach sofort. Er fühlt förmlich, wie sein Gedächtnis die Information aus Gott weiß was für einem verborgenen Fach freigibt, und weiß, daß sie richtig ist.
»Zwei Punkte. Nun den Namen.«
»Noch nicht. Gleich habe ich ihn.« Er stellt sich diese Ruine als einen jungen Mann vor, bartlos, mit Muskeln, wo er heute Fett hat, in Turnhemd und Turnhose, die schimmernde Eisenkugel in der rechten Hand, wie er den bizarren kleinen Tanz des Kugelstoßers ausführt, der in Wahrheit ein sorgfältig ausgefeilter Bewegungsablauf zur Verstärkung der Stoßkraft ist…
»Die Leichtathletikmeisterschaften in Boston, 1995. Du gewannst den Sechzigmeterlauf in sechs Sekunden, und ich stieß die Kugel einundzwanzig Meter. Unsere Bilder waren in der Zeitung. Weißt du noch? Du warst ein höllisch guter Sprinter, Schadrach. Ich wette, du bist es immer noch. Nun, was mich angeht, ich könnte die Kugel nicht mal aufheben. Weißt du jetzt, wer ich bin?«
»Ehrenreich«, sagt Schadrach sofort. »Jim Ehrenreich.«
»Sechs Punkte! Und heute bist du der Leibarzt des großen Mannes. Du sagtest damals, du wolltest der Menschheit nützlich sein, du wolltest nicht Medizin studieren, um an das große Geld zu kommen. Und du hast dein Ziel erreicht. Im Dienst der Menschheit, erhältst unseren glorreichen Führer am Leben. Warum macht du ein so erstauntes Gesicht? Glaubst du, niemand hätte eine Ahnung, wer der Leibarzt des Vorsitzenden ist?«
»Ich bemühe mich nicht um Publizität«, sagt Schadrach.
»Mag sein. Aber wir wissen ziemlich genau über alles Bescheid, was in Ulan Bator vor sich geht. Erstens sind die Zeitungen voll davon, und zweitens war ich selbst Mitglied im Revolutionsrat von San Francisco. Bis vor einem Jahr. Wohin gehst du? Chinesenviertel? Dann können wir zusammen gehen. Dieses Herumstehen ist schlecht für meine Beine, weißt du, die Krampfadern. Ja, ich war im Revolutionsrat von Nordkalifornien, der dritte Mann in der Rangfolge, überprüfter Geheimnisträger. Jetzt bin ich nichts mehr, nicht mal Parteimitglied. Aber keine Sorge: du kriegst keinen Ärger, wenn du mit mir sprichst. Nicht mal mit den Milizleuten, die da drüben stehen und herüberschauen. Ich bin kein Paria oder was, weißt du. Bloß ein ehemaliges Mitglied des Revolutionsrates. Ich kann mit allen reden.«
»Was ist passiert?«
»Ich war dumm. Ich hatte eine Freundin, verstehst du, die war auch in der Partei und hatte eine Funktion in der Stadtorganisation von San Francisco. Nun, ihr Bruder kriegte die Fäulnis. Sie sagte zu mir, kannst du nicht ein bißchen am Computer drehen, eine größere Lieferung vom Gegenmittel anfordern und meinem Bruder helfen? Klar, sagte ich, wird gemacht, für dich tue ich alles. Ich kannte den Programmierer. So ein kleiner Trick mit den Zahlen war für ihn eine Kleinigkeit. Also fragte ich ihn, und er machte es, jedenfalls glaubte ich, daß er es machte, aber das Schwein ließ mich reinsausen und verpfiff mich. Am nächsten Tag kam einer vom Sicherheitsdienst und forderte mich auf, Rechenschaft über die Sonderzuteilung vom Gegenmittel abzulegen, die ich angefordert hatte…« Ehrenreich hebt die Schultern und zwinkert fröhlich. »Sie wurde als Anstifterin zur Organfarm geschickt. Ihr Bruder starb ein paar Jahre später. Mich stießen sie aus dem Rat und der Partei aus, aber das war alles, keine weitere Bestrafung. Ich konnte von Glück sagen. Mildernde Umstände, wegen meiner langjährigen Verdienste für die Sache der Revolution. Ich kriege sogar eine kleine Rente, genug für meine Bedürfnisse. Wenn mir danach ist, kann ich mich vollaufen lassen. Aber es war ein Jammer, Schadrach, eine Verschwendung. Sie hätten mich auch zur Organfarm schicken sollen, solange ich noch gesund und ganz war. Denn jetzt geht es mit mir zu Ende. Du hast es ja gesehen.«
»Ja.«
»Es heißt, daß du sofort die Fäulnis kriegst, wenn du das Gegenmittel immer genommen hast, und auf einmal aufhörst. Es ist, als würde die angestaute Gewalt der Krankheit auf einmal freigesetzt, so daß sie dich sofort überfällt.«