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»Das habe ich auch gehört, ja«, sagt Schadrach.

»Wie lang habe ich noch? Du kannst das doch beurteilen, nicht?«

»Nicht ohne dich zu untersuchen. Vielleicht nicht mal dann. Ich bin kein Spezialist für die Organzersetzung, weißt du.«

»Nein, natürlich nicht. Nicht in Ulan Bator. Dort kannst du auf dem Gebiet keine Erfahrungen sammeln. Mich hat’s seit sechs Monaten. Vorher war mein Bart noch schwarz, und ich hatte all mein Haar. Ich werde sterben. Schadrach.«

»Wir werden alle sterben. Ausgenommen vielleicht der Vorsitzende.«

»Du weißt, was ich meine. Ich bin noch keine siebenunddreißig und muß so vor die Hunde gehen. Verfaulen und verrecken. Und warum? Weil ich blind war, weil ich dem Bruder meiner Freundin helfen wollte. Ich hatte es geschafft, war in Sicherheit, kriegte alle sechs Monate meine Spritze in den Arm…«

»Du warst wirklich dumm«, sagt ihm Schadrach, »denn nichts, was du hättest tun können, würde dem Bruder deiner Freundin geholfen haben.«

»Was?«

»Das Gegenmittel heilt nicht. Es immunisiert. Hat die Infektion einmal eingesetzt, so ist nichts mehr zu machen. Die Krankheit kann nicht rückgängig gemacht werden. Wußtest du das nicht? Ich dachte, das wüßte jeder.«

»Nein. Ich nicht.«

»Du hast deine Karriere für nichts kaputt gemacht. Hast dein Leben umsonst weggeworfen.«

»Nein, nein«, murmelt Ehrenreich. Er ist wie vor den Kopf geschlagen. »Das kann nicht wahr sein. Das glaube ich nicht.«

»Du kannst es nachlesen.«

»Nein«, sagt er. »Ich möchte, daß du mir hilfst, Schadrach. Du kannst mir das Gegenmittel verschreiben.«

»Ich sagte dir gerade…«

»Du wußtest, was ich fragen würde. Du wolltest mir nur zuvorkommen und mich abwimmeln.«

»Bitte, Jim…«

»Aber du könntest das Zeug kriegen. Wahrscheinlich hast du hundert Ampullen in deiner kleinen schwarzen Tasche. Hol’s der Teufel, Mann, du bist der Hausarzt vom Vorsitzenden! Du kannst alles erreichen. Das ist was anderes als der dritte Mann im Regionalrat. Hör zu, Mann, wir waren Kumpel, waren in derselben Mannschaft, hätten unsere Fotos in der Zeitung…«

»Es würde nichts nützen, Jim.«

»Du hast Angst, mir zu helfen.«

»Das sollte ich auch, nach dem, was du mir gerade erzählt hast. Du wurdest wegen illegaler Beschaffung und Verteilung des Gegenmittels aus dem Regionalrat und der Partei ausgestoßen, sagst du, und einen Augenblick später verlangst du, daß ich das gleiche tun soll.«

»Das ist was anderes. Du bist Hausarzt beim…«

»Trotzdem. Es hat keinen Sinn, dir das Gegenmittel zu geben, aus den Gründen, die ich gerade erklärt habe. Aber selbst, wenn es dir helfen könnte, wäre es mir nicht möglich, dir davon zu beschaffen. Ich würde nie damit durchkommen.«

»Du willst deinen Arsch nicht riskieren, das ist es. Nicht mal für einen alten Freund.«

»So ist es. Und ich lasse mir keine Schuldgefühle einreden, weil ich mich weigere, etwas zu tun, was sinnlos ist.« Alle Freundlichkeit ist aus Schadrachs Stimme gewichen. »Das Gegenmittel kann dir nicht mehr helfen. Es wäre völlig nutzlos. Mach dir das ein für allemal klar.«

»Du würdest nicht mal einen Versuch mit mir machen? Bloß als Experiment?«

»Es ist zwecklos. Absolut zwecklos.«

Nach einer langen Pause sagt Ehrenreich: »Weißt du, was ich dir wünsche, alter Kumpel? Daß du dich eines Tages in einer üblen Lage befindest, daß du mit den Fingernägeln am Rand eines Abgrunds hängst. Und daß ein alter Kumpel von dir vorbeikommt, und du schreist, hilf mir, rette mich, ich halte es nicht mehr lange aus! Und daß er dir auf die Finger tritt und weitergeht. Das wünsche ich dir. Damit du lernst, wie es ist. Das wünsche ich dir, ja.«

Schadrach zuckt die Achseln. Über einen Sterbenden kann er sich nicht ärgern. Da er nicht über seine eigenen Probleme sprechen möchte, sagt er einfach: »Wenn ich dich heilen könnte, würde ich es tun. Aber ich kann es nicht.«

»Du willst es nicht mal versuchen.«

»Es gibt nichts, was ich tun könnte. Willst du mir das glauben?«

»Ich war ganz sicher, daß, wenn mir jemand helfen kann, du derjenige sein würdest. Aber du erinnertest dich nicht mal an mich. Willst keinen Finger heben.«

»Hast du schon mal Zimmermannsarbeit gemacht, Jim?« fragt Schadrach.

»Du meinst, zur Meditation? Hat mich nie interessiert.«

»Es könnte dir helfen. Es wird deine Krankheit nicht heilen, aber es könnte dir helfen, damit zu leben. Die meditative Arbeit zeigt dir die Zusammenhänge, die du von selbst nicht ohne weiteres sehen kannst. Sie hilft dir, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden.«

»Und du bist einer von denen?«

»Ich gehe hin und wieder. Immer wenn es zu dick kommt und ich nicht weiter weiß. Es gibt solche Werkstätten auch hier; ich habe unten beim Fischereihafen eine gesehen. Würde mir nichts ausmachen, mit dir zu gehen. Es würde dir gut tun.«

»In der Stockton-Street gibt es eine Bar, in die ich oft gehe. Wie wär’s, wenn wir statt dessen dahin gingen? Angenommen, du würdest mir einen ausgeben. Das würde mir besser tun.«

»Zuerst also in die Bar, dann in die Werkstatt?«

»Wir werden sehen«, sagt Ehrenreich.

Die Bar ist ein dunkles, muffig riechendes Loch. Man muß bezahlen, bevor einem eingeschenkt wird. Sie bestellen Martini. Nach dem zweiten Glas legt sich Ehrenreichs Verärgerung; er wird griesgrämig und benebelt, ist aber weniger bitter. »Tut mir leid, daß ich das vorhin sagte, Mann«, murmelt er.

»Ist schon gut.«

»Ich dachte wirklich, du wärst der Mann, der mir helfen kann.«

»Ich wollte, ich könnte es sein.«

»Ich wünsche dir nichts Schlechtes.«

»Ich bin schon in Schwierigkeiten«, sagt Schadrach. »Hänge an den Fingernägeln über dem Abgrund.« Er lacht, bestellt eine neue Runde und hebt sein Glas. »Macht nichts. Prost, Freund.«

»Prost, Mann.«

»Nach diesem gehen wir zur Werkstatt, in Ordnung?«

Ehrenreich schüttelt den Kopf. »Ich nicht. Für mich ist das nichts, weißt du. Nicht jetzt. Nicht gerade jetzt. Geh ohne mich. Dränge mich nicht, geh einfach ohne mich.«

»Ist gut«, sagt Schadrach.

Er leert sein Glas, drückt Ehrenreich zum Abschied flüchtig den Arm — der Mann hängt mit glasigem Blick an der Theke, kaum noch ansprechbar — und geht hinunter zum Fischereihafen. Aber die Zimmermannsarbeit bringt Schadrach heute keine Erleichterung. Seine Hände zittern, er kann sich nicht konzentrieren und ist unfähig, den meditativen Zustand zu erreichen. Nach einer halben Stunde geht er wieder. Auf einem Parkplatz in der Nähe sieht er einen Wagen voller Milizionäre stehen. Sie beobachten ihn noch immer. In dem Wagen ist auch ein bärtiger Mann in Zivilkleidern. Ehrenreich? Ist das möglich? Aus dieser Entfernung kann er die Gesichter nicht erkennen, aber die dicken Schultern sehen ungefähr richtig aus, und auch das dünne Haar würde passen. Schadrach wird sehr nachdenklich. Nach der Rückkehr ins Hotel packt er und fährt zum Flughafen. Stunden später ist er auf dem Weg nach Peking.

23

In Peking kommt Schadrach im Hotel der Hundert Tore bequem unter. Es liegt im alten Gesandtschaftsviertel am Rande der Verbotenen Stadt, wo Kublai Khan und Ch’ien lung einst residierten. Hier in Peking beginnt Schadrach wieder Signale vom Vorsitzenden zu empfangen. Er ist noch immer zwölf- oder dreizehnhundert Kilometer von Ulan Bator entfernt, jenseits des eigentlichen telemetrischen Bereichs, und so sind die aufgefangenen Impulse undeutlich und schwach. Auch ist er nach der wochenlangen Trennung nicht mehr in so genauer Übereinstimmung mit den Aussendungen der Meßgeräte im Körper des alten Mannes. Aber wenn er still sitzt und seine Aufmerksamkeit ganz er still sitzt und seine Aufmerksamkeit ganz auf die Sendeimpulse konzentriert, dann gelingt es ihm, die eingehenden Biodaten mit allmählich zunehmender Klarheit zu lesen.