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»Das ist gut ausgedrückt«, sagt Schadrach. »Ja, der Vorsitzende und ich sind eine Person, eine Informationen verarbeitende Einheit. Vergleichbar mit der Einheit, die aus dem Bildhauer, dem Marmorblock und dem Meißel besteht, wie Nicki Crowfoot es kürzlich ausdrückte.«

Der Vergleich scheint Avogadro nicht zu beeindrucken, oder er hat gar nicht hingehört. Er fährt fort, das etwas starre, entschlossen liebenswürdige Lächeln zur Schau zu tragen, mit dem er Schadrach begrüßt hat.

»Aber die Verbindung ist noch nicht eng genug«, fährt Schadrach fort. »Das System könnte noch wirksamer zusammengeschlossen werden. Ich habe vor, mit den Elektronikern über ein paar Veränderungen zu sprechen, sobald ich nach Ulan Bator komme.«

»Und wann wird das sein?«

»Heute Abend«, sagt Schadrach. »Ich fliege mit der nächsten Maschine.«

Avogadro zieht die Brauen hoch. »Tatsächlich? Wie praktisch. Das erspart mir die Mühe, Sie…«

»Mich zur Rückkehr aufzufordern?«

»Ja.«

»Ich dachte mir, daß Sie mit so etwas herauskommen würden.«

»Die Sache ist die, daß der alte Mann Sie vermißt. Er hat mich hergeschickt, daß ich mit Ihnen spreche.«

»Natürlich.«

»Und Sie ersuche, zurückzukommen.«

»Er hat Sie geschickt, mich darum zu ersuchen? Er hat Ihnen nicht Anweisung gegeben, mich zu bringen? Nun, das ist eine angenehme Neuigkeit. Er hat Sie gebeten, mich zu ersuchen, ob ich zurückkehren würde! Aus freien Stücken.«

Avogadro sieht ihn stirnrunzelnd an. »Ja, natürlich. Was dachten Sie?«

Schadrach denkt an die Milizionäre, die ihn auf den verschiedenen Stationen seiner Weltreise keinen Tag aus den Augen gelassen haben, und er stellt sich vor, wie sie die Köpfe zusammensteckten und über ihren Protokollen und Berichten grübelten, die sie für ihre Vorgesetzten und die Kollegen in entfernten Städten anfertigen mußten. Er weiß, daß die wirkliche Situation nicht so harmlos und zufällig ist, wie Avogadro ihn glauben machen möchte. Mit seinem Entschluß, noch heute zurückzukehren, hat er Avogadro der Peinlichkeit enthoben, ihn in Gewahrsam zu nehmen und zwangsweise nach Ulan Bator zurückbringen zu müssen. Er hofft, der Sicherheitschef weiß ihm das zu danken.

Er sagt: »Wie schlimm sind die Kopfschmerzen des Vorsitzenden?«

»Ziemlich schlimm, soviel ich weiß.«

»Sie haben ihn nicht gesehen?«

Avogadro schüttelt den Kopf. »Nur am Telefon. Er sah müde und abgespannt aus.«

»Wann war das?«

»Vorgestern Abend. Aber von den Kopfschmerzen des Vorsitzenden ist schon die ganze Woche geredet worden.«

»Ich verstehe«, sagt Schadrach. »Ich dachte, es könnte so etwas sein. Darum habe ich beschlossen, vorzeitig zurückzukehren.« Er blickt Avogadro fest in die Augen. »Sie verstehen das, nicht wahr? Daß ich mich zum Abbruch meiner Urlaubsreise entschloß, sobald ich bemerkte, daß das Wohlbefinden des Vorsitzenden zu wünschen übrig läßt. Die Verantwortung für meinen Patienten verlangt es; sie hat immer mein Handeln bestimmt. Zu allen Zeiten. Das ist Ihnen sicherlich klar, oder?«

»Selbstverständlich«, sagt Avogadro.

23. Juni 2012

Wie, wenn ich gestorben wäre, ehe ich meine Arbeit getan hätte? Das ist durchaus keine müßige Frage. Ich bin eine wichtige geschichtliche Gestalt. Ich bin einer der großen Umformer der Gesellschaft. Wäre ich 1995, 1998 oder noch 2001 von der weltpolitischen Szene abgetreten, so wäre möglicherweise alles im Chaos untergegangen. Ich bin für diese neue Gesellschaft, was Augustus für das Römische Weltreich war, was Chin Shi Huang Ti für China war. Wie würde die Welt heute aussehen, wenn ich vor zehn Jahren zugrundegegangen wäre? Hätte die Revolution den Sieg davongetragen? Wahrscheinlich hätten sich die überlebten alten Kräfte da und dort noch länger an der Macht gehalten. Und weitere verlustreiche Kämpfe und Aufstände wären die Folge gewesen. Neue Ausbrüche biologisch-chemischer Kriegführung und zuletzt die Selbstausrottung der Menschheit. Alles das hätte leicht geschehen können, wenn meine Person in jenen kritischen Augenblicken aus der Geschichte entfernt worden wäre. Ich bin der Retter der Welt.

Es klingt unerträglich großspurig. Retter der Welt! Heros, Mythengestalt. Ich, Krischna, ich, Quetzalcoatl, ich, Dschingis Khan H. Mao. Und doch kann ich dies mit Recht von mir sagen, mit mehr Recht als irgendein anderer, denn ohne mich könnte die ganze Menschheit heute ausgelöscht sein, und das ist eine neue Qualität in der Geschichte der Erlöser-Mythen. Einigung der Menschheit, Aufbau der neuen Gesellschaft, Kampf gegen die Folgen des Viruskriegs — ja, dies könnte inzwischen sehr leicht ein toter Planet sein, wenn ich vor fünfzehn Jahren ins Grab gesunken wäre. Die Geschichte wird es anerkennen. Und doch, was macht es aus? Ich werde nicht in Vergessenheit geraten, wenn ich sterbe — ich werde niemals in Vergessenheit geraten, aber ich werde sterben. Früher oder später werden meine Ausflüchte und Hinhaltemanöver sich erschöpfen. Weder Talos noch Phönix oder Vatara können mich für unbegrenzte Zeit erhalten. Irgend etwas wird versagen, oder der Überdruß wird mich bezwingen und bewirken, daß ich meinem Leben selbst ein Ende mache, und was wird es nach meinem Tode bedeutet haben, daß ich die Welt rettete? Was ich getan habe, ist für mich letztendlich bedeutungslos. Die Macht, die ich erlangt habe, ist letztendlich leer. Ich rede mir ein, die Einigung der Menschheit und die Verwirklichung der Ziele unserer Bewegung hätten eine Bedeutung, aber das ist nicht der Fall; nichts ist von Bedeutung. Das Leben des Menschen — und folglich das Leben der gesamten Menschheit — ist ohne tieferen Sinn. Diese Philosophie ist unter den jungen Leuten weit verbreitet, aber auch unter den sehr alten. Ich muß so tun, als sei mir die Macht wichtig. Ich muß vorgeben, daß der Sieg der fortschrittlichen Kräfte leuchtende Zukunftsperspektiven eröffne, muß den Anschein erwecken, als trügen die Geschichte und der Fortbestand der Menschheit ihren Sinn in sich selbst. Aber ich bin zu alt, als daß es mich noch kümmern könnte. Ich habe vergessen, warum mir wichtig war, was ich getan habe. Ich ziehe ein schal und albern gewordenes Spiel in die Länge, nicht bereit, es enden zu lassen, weil die Alternative das Nichts wäre. Und so mache ich weiter. Ich, Dschingis Khan II. Mao, Retter der Welt, muß vor meiner Umgebung die tiefe und lähmende Leere verbergen, die mich erfüllt. Ich bin müde. Ich bin des Lebens überdrüssig. Mein Kopf schmerzt. Mein Kopf schmerzt.

»Mordechai!« krächzt der Vorsitzende. »Diese Kopfschmerzen! Diese elenden Kopfschmerzen! Bringen Sie das in Ordnung!«

Der alte Mann sitzt aufrecht im Bett, im Rucken von drei Kissen gestützt, und bearbeitet Akten. Er sieht müde und zermürbt aus, mit verkrampfter Kinnlade und einem gepeinigten und gereizten Ausdruck in den Augen, die außerstande scheinen, sich längere Zeit auf einen Punkt zu konzentrieren. Aus dieser Nähe kann Schadrach mit Leichtigkeit ein Dutzend verschiedener Symptome des Drucks ausmachen, der sich in den Höhlungen des Gehirns aufbaut. Verschiedene Anzeichen lassen bereits erste geringfügige Beeinträchtigungen der Hirnfunktionen erkennen. An der Diagnose besteht jetzt kein Zweifel mehr.

»Sie waren zu lange fort, Doktor«, fährt der Vorsitzende ungnädig fort. »Sicherlich haben Sie sich gut amüsiert, ja. Aber die Kopfschmerzen, Doktor, diese elenden, scheußlichen Kopfschmerzen — ich hätte Sie nicht gehen lassen sollen. Ihr Platz ist hier, neben mir. Es war, als hätte ich meine rechte Hand auf Weltreise geschickt. Ein zweites Mal werde ich Sie nicht gehen lassen, das sollen Sie gleich wissen. Und nun kümmern Sie sich um meine Kopfschmerzen, die mich kaum noch arbeiten lassen. Ich bin am Verzweifeln. Dieser ständige Druck, das Pochen, und immer wieder dieser stechende Schmerz. Als ob etwas in meinem Schädel säße und herauszukommen suchte.«