Unfähig, den Anblick ihres traurigen Gesichts zu ertragen, schaltet er aus und stellt eine Verbindung mit Nicki Crowfoot vom Projekt Avatara her.
Sie lächelt zärtlich.
»Hast du gut geschlafen, Schadrach?«
Ihre Kraft und die Stärke ihrer Anteilnahme verleihen noch der kleinen Wiedergabe auf der Mattscheibe eine besondere Ausstrahlung. Sie ist eine kraftvolle Frau, eine Athletin, braunhäutig, großbrüstig und so groß wie er selbst, mit einem starkknochigen Gesicht, weit auseinander stehenden Augen, einem breiten Mund und hochrückiger, leicht gebogener Nase. Beide Eltern waren Indianer, die Mutter eine Navajo, der Vater ein Hopi. Sie und Schadrach sind seit über einem Jahr befreundet, seit vier Monaten Liebende. Schadrach hofft, daß der Vorsitzende von ihrer Affäre nichts weiß, ahnt jedoch, daß es eine naive Hoffnung ist.
Er sagt: »Jedenfalls habe ich eine Zeitlang gut geschlafen.«
»Sorgen wegen der Operation?«
»Wahrscheinlich. Oder vielleicht nur allgemeine Sorgen.«
Sie lächelt. »Ich hätte dir helfen können, auf andere Gedanken zu kommen.«
»Ganz bestimmt. Aber bei einem solchen Eingriff möchte ich ausgeruht sein. Die Konzentration muß absolut klar sein, der Verstand wach und unvernebelt. Vielleicht ist es albern, Nicki, aber das war immer mein Prinzip: vor wichtigen Ereignissen auszuschlafen.«
»Schon gut, schon gut. Ich wollte dich bloß aufziehen. Außerdem läßt sich alles nachholen.«
»Heute Abend, ja. Oder am Nachmittag. Ich denke, wir werden ihn um halb drei vom Tisch haben. Wie würde es dir gefallen, mit mir einen Ausflug nach Karakorum zu machen?«
Sie seufzt und macht ein Gesicht. »Ich kann nicht. Wir haben heute Nachmi ttag wichtige Versuche laufen. Möchtest du meinen Bericht hören?«
Doktor Crowfoots Arbeit überlappt in mancher Hinsicht die beiden anderen Projekte, denn das Ziel des Projekts Avatara ist die Entwicklung einer Technik der Persönlichkeitsübertragung, die Dschingis Khan II. Mao in die Lage versetzen soll, mit dem bewußten Selbst seiner Persönlichkeit, aber ohne Mitnahme irgendwelcher Teile seiner hinfälligen physischen Erscheinung in einen anderen, jüngeren Körper einzugehen. Wie im Projekt Talos wird auch hier versucht, Denkmuster und Verhaltensweisen des Vorsitzenden in digitale und daher programmierbare, reproduzierbare Kodierungen umzuwandeln; wie im Projekt Phönix wird damit bezweckt, dem Vorsitzenden einen neuen und gesunden Körper zu verschaffen. Aber wo Talos die aufgezeichnete und reproduzierte Persönlichkeit des alten Mannes in einem mechanischen Konstrukt beherbergen möchte, würde Avatara sie in einem bis dahin von jemand anders bewohnten Körper unterbringen, genauer gesagt, in Mangus Körper. Auf der einen Seite würde Crowfoots Projekt die Unmenschlichkeit vermeiden, einen Robotervorsitzenden zu schaffen, während es auf der anderen Seite das Problem des Gehirnzellenverfalls umgehen würde, indem es die ungreifbare und abstrakte Essenz des alten Mannes einem jungen und leistungsfähigen Gehirn aufprägen würde. Trotz dieser teilweisen Überlappung werden die drei Projekte völlig unabhängig voneinander weiterverfolgt, obwohl auf allen Ebenen ein ständiger Gedankenaustausch stattfindet.
Dank seiner privilegierten Stellung ist Schadrach Mordechai vielleicht der einzige, der einen genaueren Überblick über den Stand der Dinge hat. Er weiß, daß Katja Lindmans Gruppe an einem Problem arbeitet, das wahrscheinlich hoffnungslos ist — die Übertragung einer menschlichen Persönlichkeit auf eine Maschine wird kein überzeugendes und politisch lebensfähiges Duplikat des Originals hervorbringen, da Maschinen im allgemeinen unfähig sind, die Begrenztheit ihres maschinellen Charakters zu überwinden —, und daß Irina Sarafrazis Gruppe, obwohl sie mit der einleuchtendsten Methode versucht, dem Vorsitzenden die ersehnte langfristige Lebensverlängerung zu bescheren, wahrscheinlich verurteilt ist, an der offenbar unlösbaren Schwierigkeit des Gehirnzellenverfalls zu scheitern. Er weiß auch, daß Nicki Crowfoots Weg zur Persönlichkeitsverschlüsselung erfolgreicher als Lindmans Methode gewesen ist, und daß es den Wissenschaftlern des Projekts Avatara in einigen Monaten möglich sein mag, die Persönlichkeitsstruktur des Vorsitzenden wie einen tief eindringenden Farbanstrich über das Gehirn eines Spenderkörpers zu decken, dessen bisheriger Bewohner durch aktive elektro-enzephalographische Techniken ausgelöscht worden ist. Armer Mangu. Sein Geschick wird sich bald erfüllen, es sei denn, der Revolutionsrat, dem die diesbezüglichen Pläne seines Vorsitzenden nicht bekannt sind, widersetzt sich dem Vorhaben. Das kann angesichts der herrschenden Rivalitäten und persönlichen Ambitionen innerhalb des Revolutionsrates jedoch keineswegs als gesichert gelten.
Schadrach lauscht in fröstelnder Faszination ihrem Bericht. Sie haben das Stadium erreicht, wo sie die Verhaltensweisen von Tieren verschlüsseln können, indem sie die charakteristischen Muster der Gehirntätigkeit aufzeichnen und in Zahlenkombinationen umsetzen, mit deren Hilfe ein Computer die elektrischen Muster auf die Gehirne von Spendertieren überträgt. So haben sie das Verhalten eines Hahns aufgezeichnet und auf das zuvor neutralisierte Gehirn eines Mäusebussards übertragen; dieser fliegt nun nicht mehr, sondern läuft im Hühnerstall herum, versucht den Hahnenschrei nachzuahmen, flattert unbeholfen mit den großartigen Schwingen und bespringt die entsetzten Hennen. Sie haben die Persönlichkeit eines Gibbon aufgezeichnet und auf einen Gorilla übertragen, der nun zu einem Baumbewohner geworden ist und in wilder Raserei durch die Baumkronen hangelt, während seine frühere Gorillapersönlichkeit nun in der Gestalt des Gibbon wohnt, der sich, auf die Fingerknöchel gestützt, bedächtig am Boden dahinbewegt und auf den schmächtigen Brustkorb trommelt, wenn er in Zorn gerät. Und so weiter; Nicki erzählt ihm, daß sie sich auf die ersten menschlichen Bewußtseinsübertragungen vorbereiten, mit denen In einigen Wochen begonnen werden könne.
Schadrach fragt nicht, wo sie ihre Versuchspersonen hernehmen will. Im Dienst des Vorsitzenden gerät man mit verwirrenden ethischen Problemen in Konflikt, und er zieht es vor, sein Gewissen nicht mit den Taten der Geliebten zu belasten.
»Ruf mich an, wenn die Operation beendet ist«, sagt Nicki Crowfoot.
»Wird euch das nicht bei den kritischen Versuchen stören?«
»So kritisch sind sie nicht. Ruf ruhig an. Also, bis heute Abend.«
»Ja, bis heute Abend«, sagt Schadrach und unterbricht die Verbindung. Es ist acht Uhr fünfundfünfzig. Er muß den Vorsitzenden zum Operationsraum geleiten.
4
Die Leber, größte Drüse des Körpers, ist ein nützliches und kompliziertes Organ, das eineinhalb Kilogramm wiegt — ungefähr zwei Prozent des Körpergewichts — und Hunderte von wichtigen biochemischen Funktionen ausführt. Die Leber erzeugt Galle, eine grünliche, für die Verdauung wichtige Flüssigkeit. Sie filtriert Bakterien, Gifte, Drogen und andere schädliche Verunreinigungen aus dem venösen Blut und fügt ihm Plasmaproteine hinzu, die sie erzeugt, darunter das Gerinnungsmittel Fibrinogen und das Antikoagulat Heparin. Ferner scheidet sie Zucker aus dem Blut ab, wandelt ihn in Glykogen um und speichert dieses, bis es vom Energiebedarf des Körpers aufgezehrt wird. Schließlich ist die Leber auch für die Umwandlung von Fetten und Proteinen in Kohlehydrate, die Speicherung von fettlöslichen Vitaminen, die Erzeugung von Antikörpern, den Abbau abgenutzter roter Blutkörperchen und vieles andere verantwortlich.
So viele Stoffwechselfunktionen erfüllt die Leber, daß kein Wirbeltier länger als ein paar Stunden ohne sie überleben kann. Sie ist für das Leben von so zentraler Bedeutung, daß sie außerordentliche Regenerativkräfte besitzt: werden drei Viertel der Leber entfernt, so vermehren sich die verbleibenden Zellen so rasch, daß das Organ innerhalb von zwei Monaten seine ursprünglichen Dime nsionen wieder erreicht. Selbst wenn neunzig Prozent der Leber zerstört werden, fährt sie fort, im normalen Umfang Galle zu erzeugen. Dennoch gibt es viele Fehlfunktionen der Leber — die verschiedenen Formen der Gelbsucht, Nekrosen, Sepsis, dysenterische Abszesse, Krebs und so weiter. Vielseitigkeit und Lebenskraft der Leber befähigen sie, selbst bei chronischen Erkrankungen noch lange ihren Dienst zu tun, aber mit dem Alter beginnt ihre Erholungsfähigkeit zu schwinden.