»Es gibt keinen Grund zur Besorgnis. Wir werden das bald in Ordnung bringen.«
Der alte Mann verdreht die Augen in einer gequälten Grimasse. »Wie denn? Wollen Sie ein Loch in meinen Schädel bohren? Den Dämon wie eine stinkende Gaswolke entweichen lassen?«
Schadrach lächelt. »Ich bin kein Schamane, und dies ist nicht das Neolithikum. Die Trepanation ist längst veraltet. Wir haben bessere Methoden.« Er legt die Fingerspitzen an die Wangen des Alten, tastet die Knochenstruktur ab. »Entspannen Sie sich, bitte. Lassen Sie die Muskeln erschlaffen.« Es ist später Abend, und Schadrach ist müde und erschöpft. Er ist seit San Francisco kaum zur Ruhe gekommen und hat sofort nach der Ankunft in Ulan Bator den Vorsitzenden aufgesucht, ohne sich auch nur umzuziehen. Sein Bewußtsein ist ein Durcheinander von Zeitzonen, und er weiß nicht genau, ob es Samstag, Sonntag oder Freitag ist. Aber im Kern seines Wesens ist ein Raum völliger Ruhe und kristallener Klarheit. »Entspannen Sie sich«, wiederholt er. »Versuchen Sie die Verkrampfung zu lösen, lassen Sie die Spannung aus dem Nacken und den Schultern abfließen. Ganz ruhig jetzt, überlassen Sie sich einfach meinen Händen…«
»Mit Massagen und beruhigenden Reden werden Sie das nicht heilen«, ächzt der Vorsitzende.
»Aber wir können damit die Symptome mildern.«
»Und dann?«
»Wenn nötig, gibt es chirurgische Möglichkeiten, Abhilfe zu schaffen.«
»Sehen Sie, Sie werden also doch ein Loch in meinen Schädel bohren! Wie im Neolithikum!«
»Wir werden es eleganter machen, das verspreche ich.« Schadrach bewegt sich um das Kopfende des Bettes, bis er hinter dem Vorsitzenden steht und nicht von der Notwendigkeit abgelenkt wird, Augenkontakt mit dem reizbaren alten Mann zu halten.
Während er ihm die Hals- und Nackenmuskulatur massiert, konzentriert er sich auf diagnostische Wahrnehmungen. Hydrostatisches Ungleichgewicht, ja; Hirnhauterweiterung, ja; eine Ansammlung von Flüssigkeit in den Hohlräumen des Gehirns, ja. Die Lage ist keineswegs kritisch, und ein Eingriff ließe sich ohne großes Risiko noch wochen- oder monatelang hinausschieben, aber Schadrach beabsichtigt das Problem sofort anzupacken. Und nicht nur um des Vorsitzenden willen.
Der alte Mann beginnt die wohltuende Wirkung der Massage zu verspüren. »Es ist gut, Sie wiederzuhaben.«
»Das freut mich.«
»Sie hätten an den Feierlichkeiten teilnehmen sollen. Sie hätten einen Sitz in der ersten Reihe der Tribüne bekommen. Es war großartig, Mordechai, großartig und bewegend. Haben Sie das Staatsbegräbnis im Fernsehen verfolgt?«
»Selbstverständlich«, lügt Schadrach. »In… ah… in Jerusalem. Ich glaube, ich war zu dem Zeitpunkt in Jerusalem. Ja, großartig. Außerordentlich eindrucksvoll, ja.«
»Eindrucksvoll, ja«, bekräftigt der Vorsitzende und schließt einen Augenblick die faltigen Lider. Ein leises Lächeln breitet sich über seine Züge aus. »Man wird dieses Staatsbegräbnis niemals vergessen. Es war eines der großen Schauspiele der Geschichte. Die Assyrer hätten dem alten Sardanapal kein prächtigeres Begräbnis ausrichten können.« Er lacht heiser auf. »Wenn man schon nichts von der eigenen Beerdigung hat, sollte man wenigstens nicht versäumen, für andere ein prächtiges Begräbnis zu veranstalten. Finden Sie nicht, eh? Eh?«
»Ich wünschte, ich hätte dabeisein können.«
»Aber Sie waren in Jerusalem. Oder war es Istanbul?«
»Jerusalem, denke ich.« Er legt die Fingerspitzen an die Schläfen seines Patienten und übt einen leichten Druck aus. Der alte Mann verzieht schmerzlich das Gesicht. Gleich darauf Grunzt er auf, als die Fingerspitzen des Arztes hinter den Ohren und etwas darunter zudrücken.
»Da tut’s weh«, sagt er.
»Ja.«
»Seien Sie ehrlich, Doktor. Wie schlimm ist es wirklich?«
»Es sieht nicht so gut aus. Keine unmittelbare Gefahr, aber es gibt da ein Problem.«
»Erklären Sie es mir.«
Schadrach geht um das Bett, bis der andere ihn wieder sehen kann. »Gehirn und Rückenmark«, sagt er, »schwimmen buchstäblich in einer Flüssigkeit, die wir cerebrospinale Flüssigkeit nennen. Sie wird in hohlen Kammern im Inneren des Gehirns erzeugt, die als Ventrikel bekannt sind. Diese Flüssigkeit schützt und nährt das Gehirn, und indem sie in den das Gehirn umgebenden Raum abfließt, transportiert sie die Abfallprodukte des Stoffwechsels ab, die von der Gehirntätigkeit herrühren. Unter bestimmten Umständen können die Passagen von den Ventrikeln zu diesen äußeren, von der Gehirnhaut umgebenen Räumen verstopfen, und die cerebrospinale Flüssigkeit sammelt sich in den Ventrikeln an.«
»Und das ist, was in meinem Kopf geschieht?«
»Es scheint so.«
»Wie kann es dazu kommen?«
»Normalerweise ist eine Infektion oder ein Tumor an der Gehirnbasis die Ursache. Gelegentlich kommt es sozusagen von selbst zu Behinderungen beim Abfließen der cerebrospinalen Flüssigkeit, ohne daß Anschwellungen oder Entzündungen zu erkennen sind. Das mag dann mit dem Alterungsprozeß zusammenhängen.«
»Und welches sind die Wirkungen?«
»Bei Kindern vergrößert sich der Schädel, wenn die Ventrikel anschwellen. Das ist der Zustand, der als Hydrocephalus oder Wasserkopf bekannt ist. Der Erwachsenenschädel ist natürlich nicht in der Lage, sich auszudehnen, also muß das Gehirn den ganzen Druck ertragen. Im allgemeinen sind schwere Kopfschmerzen das erste Symptom. Darauf folgen Gleichgewichtsund Koordinationsstörungen, Gesichtslähmungen, allmählicher Verlust des Augenlichts, Ohnmachtsanfälle, die allgemeine Schwächung der Gehirnfunktionen, Krampfzustände, wie man sie sonst bei Epileptikern antrifft…«
»Und dann kommt es zum Tode?«
»Ja. Schließlich tritt der Tod ein.«
»Wie lang dauert es von den ersten Symptomen bis zum Tode?«
»Das hängt vom Ausmaß der Stauung, von der Lebenskraft des Patienten und vielen anderen Faktoren ab. Manche Leute leben jahrelang mit leichten oder im Entstehen begriffenen hydrocephalischen Störungen und merken es nicht einmal. Selbst akute Fälle können sich über Jahre hinziehen, unterbrochen von längeren Perioden der Besserung. Auf der anderen Seite kann die Erkrankung in ungünstig gelagerten Fällen innerhalb weniger Monate zum Tod führen, gelegentlich sogar noch viel schneller, etwa wenn sich ein Ödem bildet, eine Anschwellung, die die autonomen Systeme unterbricht.«
Diese Vorträge über Symptome und Prognosen haben den Vorsitzenden immer fasziniert, und auch jetzt zeigt sein Blick gespannte Aufmerksamkeit. Aber da ist noch etwas, ein Ausdruck von Bestürzung, der an Schrecken grenzt und den Schadrach nie zuvor beobachtet hat.
»Und in meinem Fall?« fragt der Vorsitzende.
»Natürlich werden wir eine Serie von Tests machen müssen. Aber auf der Basis dessen, was ich den Überwachungsinstrumenten entnehme, neige ich zu einem raschen Eingriff.«
»Ich habe nie einen gehirnchirurgischen Eingriff gehabt. Die Idee gefällt mir nicht. Ich will Warhaftigs Laser nicht in meinem Kopf haben. Ich will nicht, daß er mir Stücke meines Verstandes herausschneidet. Das Gehirn ist eine andere Sache als eine Niere oder ein Lungenflügel.«
»Es ist nicht die Rede davon, daß so etwas geschehen sollte.«
»Was wollen Sie dann machen?«
»Es ist nichts als eine Dekompressionstherapie. Wir werden Ventilschläuche installieren, um die überschüssige Flüssigkeit direkt in den Kreislauf abzuleiten. Die Operation ist relativ einfach und viel weniger riskant als eine Organverpflanzung.«
»Aber ich bin Organverpflanzungen gewohnt«, entgegnet der alte Mann verdrießlich. »Ich glaube, daß ich Organverpflanzungen sogar mag. Gehirnchirurgie ist mir etwas Neues.«
»Vielleicht wird Ihnen die Gehirnchirurgie genauso gut gefallen«, sagt Schadrach aufmunternd, während er ein Beruhigungsmittel für den Patienten vorbereitet.