Am folgenden Morgen sucht er Franco Cifolia in der Nachrichtenabteilung auf. »Ich hörte, daß Sie zurückgekommen sind«, sagt Cifolia. »Ich hörte es, wollte es aber nicht glauben. Warum sind Sie wiedergekommen, in Gottes Namen?«
Schadrach sieht sich mißtrauisch um. »Kann man hier sprechen, ohne daß jedes Wort mitgeschnitten wird?«
»Allmächtiger! Glauben Sie, ich würde mein eigenes Büro verwanzen?«
»Jemand anderer könnte es getan haben, ohne Ihnen davon zu erzählen.«
»Sprechen Sie«, sagt Cifolia. »Hier ist es sicher.«
»Wenn Sie meinen…«
»Ich meine es wirklich. Warum sind Sie nicht geblieben, wo Sie waren?«
»Der Sicherheitsdienst wußte die ganze Zeit, wo ich war. Wo ich ging und stand, wurde ich von der Miliz beschattet. In Peking tauchte Avogadro persönlich in dem Hotel auf, wo ich abgestiegen war.«
»Was hatten Sie anderes erwartet? Mit Verkehrsmaschinen um die Welt fliegen, in Hotels absteigen… Es gibt Möglichkeiten, unterzutauchen und sich verborgen zu halten, aber das tut jetzt wohl nichts mehr zur Sache. Hat Avogadro Sie zur Rückkehr veranlaßt?«
»Ich hatte meine Flugkarte schon gekauft.«
»Um Himmels willen, warum?«
»Ich kam zurück, weil ich eine Möglichkeit sah, mich zu retten.«
»Wenn Sie sich retten wollen, müssen Sie in den Untergrund gehen.«
»Nein. Ich rette mich, indem ich zurückkomme und weiterhin meine Funktionen als Leibarzt des Vorsitzenden erfülle. Wissen Sie, daß er krank ist?«
»Er soll Kopfschmerzen haben, hörte ich.«
»Gefährliche Kopfschmerzen. Wir werden operieren müssen.«
»Gehirnchirurgie?«
»So ist es.«
Cifolia preßt die Lippen zusammen und mustert sein Gegenüber nachdenklich. »Ich sagte Ihnen mal, Sie wären nicht verrückt genug, um in dieser Stadt zu überleben. Vielleicht war ich im Irrtum. Vielleicht sind Sie durch und durch verrückt. Sie müssen es sein, wenn Sie denken, Sie könnten absichtlich eine Operation am Vorsitzenden verpfuschen und damit durchkommen. Meinen Sie nicht, daß Warhaftig Ihr Tun durchschauen und Sie an Ihrem Vorhaben hindern wird? Meinen Sie nicht, daß er Sie verpfeifen wird, sollte es Ihnen wirklich gelingen? Was nützt es, den Vorsitzenden umzubringen, wenn Sie nachher selbst in der Organfarm landen? Wie…«
»Ärzte bringen Ihre Patienten nicht um, Cifolia.«
»Aber…«
»Sie ziehen voreilige Schlüsse. Projizieren Ihre eigenen Fantasien, vielleicht. Ich werde einfach operieren und die Kopfschmerzen des Vorsitzenden heilen. Und dafür sorgen, daß er bei guter Gesundheit bleibt.« Schadrach lächelt. »Stellen Sie bitte keine Fragen. Helfen Sie mir einfach.«
»Wie?«
»Machen Sie Buckmaster ausfindig. Ich brauche eine Sonderanfertigung, und er ist der richtige Mann, der sie machen kann. Und danach brauche ich Ihre Hilfe beim Aufbau der telemetrischen Schaltung.«
»Warum Buckmaster? Es gibt hier genug tüchtige Fachleute für Mikroelektronik.«
»Für diese Arbeit brauche ich Buckmaster. Er ist der Beste auf seinem Gebiet, und außerdem ist er derjenige, der das telemetrische System konstruiert hat, dessen eine Hälfte ich mit mir herumtrage. Er ist der geeignete Mann, um dieses System zu ergänzen.« Schadrach faßt ihn fest ins Auge. »Können Sie mich mit Buckmaster in Verbindung bringen?«
Nach einem Augenblick nickt Cifolia. »Ich werde Sie zu ihm bringen«, sagt er. »Wann haben Sie Zeit?«
»Jetzt.«
»Jetzt gleich? In dieser Minute?«
»Wenn es geht«, sagt Schadrach. »Ist er sehr weit von hier?«
»Das kann man nicht sagen.«
»Wo ist er?«
»In Karakorum«, antwortet Cifolia. »Wir haben ihn bei den Transtemporalisten versteckt.«
2. Januar 2009
Ich bestand darauf, und so ließ man mich von der transtemporalen Erfahrung kosten. Viel Gerede von Risiken, von Nebenwirkungen und von meiner Verantwortung und Unentbehrlichkeit für das Gemeinwohl. Ich ließ mich davon nicht beeindrucken. Es kommt nicht oft vor, daß ich auf etwas bestehen muß, aber dies war ein Kampf. Den ich natürlich gewann. Als ich Karakorum besuchte, war Mitternacht vorbei, und es schneite leicht. Das Zelt war von Besuchern geräumt worden, und man hatte Wachen postiert. Zuvor hatte Teixeira mich gründlich untersucht. Wegen der Drogen, die zur Erlangung der transtemporalen Erfahrung notwendig sind. Völlig gesund, lautete das Ergebnis: ich kann ihren stärksten Drogentrank vertragen. Also hinein ins Zelt. Ein düsterer Ort, übler Gestank. Er ist mir aus meiner Kindheit vertraut — verbrannter Kameldung und ungegerbte Ziegenfelle. Ein kleiner buckliger Mann in der Kleidung eines Lama kam auf mich zu, zeigte sich völlig unbeeindruckt von mir, keinerlei Ehrfurcht. Aber warum auch Ehrfurcht vor einem Lebenden, wenn man einen Trank schlucken und Caesar, den Buddha oder Dschingis Khan besuchen kann? Er mischt mir ein Gebräu, öle, verschiedene Pülverchen werden verrührt, und schließlich gibt er mir die Schale zum Trinken. Süß und klebrig, kein guter Geschmack. Er ergreift meine Hände, flüstert mir allerlei ein, und ich fühle, wie mich schwindelt, und auf einmal wird das Zelt zu einer Wolke und ist verschwunden, und ich finde mich in einem anderen Zelt wieder, geräumig und niedrig, mit weißen Gebetsfahnen und gestickten Wandbehängen, und ich stehe vor ihm. Er ist dick und nicht sehr groß, ein Mann vorgerückten Alters, mit einem langen Schnurrbart, kleinen Augen, einem kraftvollen Mund. Ein Schweißgestank geht von ihm aus, als habe er seit Jahren nicht gebadet, und zum ersten Mal in meinem Leben möchte ich vor einem anderen Menschen auf die Knie sinken, denn dies ist sicherlich Temudschin, dies ist der Großkhan, dies ist der Gründer, der Eroberer.
Ich knie nicht nieder, allenfalls in mir selbst. Ich biete ihm meine Hand. Ich verneige mich.
»Vater Dschingis«, sage ich. »Aus der Ferne von neunhundert Jahren komme ich, dir die Ehre zu erweisen.«
Er betrachtet mich ohne sonderliches Interesse. Nach einer kleinen Weile reicht er mir eine Schale. »Nimm einen Schluck Airag, alter Mann.«
Wir trinken gemeinsam, ich zuerst, dann der Großkhan. Er ist einfach gekleidet, keine scharlachroten Gewänder, kein Hermelinbesatz, keine Krone, nur die Lederrüstung eines Kriegers. Sein Scheitel ist geschoren, doch hinten fällt ihm das Haar bis auf die Schultern. Er könnte mich mit einem Schlag der linken Hand töten.
»Was willst du?« fragt er.
»Dich sehen.«
»Du siehst mich. Was noch?«
»Dir sagen, daß du für immer leben wirst.«
»Ich werde wie jeder Mensch sterben, Alter.«
»Dein Körper wird sterben, Vater Dschingis. Aber dein Name wird jedes Zeitalter überdauern.«
Er denkt darüber nach. »Und mein Reich? Wie steht es mit ihm? Werden meine Söhne nach mir regieren?«
»Deine Söhne werden über die halbe Welt herrschen.«
»Die halbe Welt«, sagt Dschingis Khan leise. »Nur die halbe? Ist das die Wahrheit, alter Mann?«
»Kathay wird ihnen gehören…«
»Kathay gehört bereits mir.«
»Ja, aber sie werden es ganz beherrschen, bis hinunter zu den heißen Dschungeln des Südens. Und sie werden die hohen Gebirge und Turkestan beherrschen, Afghanistan und Persien und das russische Land, alles bis zu den Toren Europas. Die halbe Welt, Vater Dschingis!«
Der Großkhan grunzt.
»Und ich sage dir noch dies: In neunhundert Jahren wird ein Khan namens Dschingis über alles herrschen, von Meer zu Meer, von Küste zu Küste. Alle Menschen dieser Erde werden seinem Wort folgen.«
»Ein Khan von meinem Blut?«
»Ein echter Tatar«, versichere ich ihm.
Dschingis Khan versinkt in ein langes Stillschweigen. Es ist unmöglich, in seinen Augen zu lesen. Er ist kleiner, als ich ihn mir vorgestellt hatte, und sein Geruch ist schlimm, aber er ist ein Mann von solcher Kraft und Bestimmtheit, daß ich gedemütigt bin, denn ich hatte mich für seinesgleichen gehalten, und in einer Weise bin ich es, und doch ist er mehr, als ich jemals sein kann. Es ist nichts Berechnendes an ihm; er ist völlig wahrhaftig und unbedenklich, ein Mann, der für den Augenblick lebt, der nie etwas ein zweites Mal überdenken muß, weil seine erste Überlegung immer richtig gewesen ist. Er ist nur ein barbarischer Stammeshäuptling, ein wilder Krieger und Nomadenführer aus der Gobi, dem jeder Aspekt meines gewohnten täglichen Lebens als verwirrende Magie erscheinen würde: doch wenn ich ihn mit mir nähme, würde er die Arbeitsweise des Kontrollraums in drei Stunden verstehen. Er ist ein Barbar, ja, aber nicht nur das, und obgleich ich ihm in mancher Hinsicht überlegen bin, obgleich mein Leben und meine Macht über sein Verstehen hinausgehen, ist er in all den Punkten, auf die es ankommt, mein Meister. Er flößt mir Ehrfurcht ein. Wie ich es erwartet hatte. Und in seiner Gegenwart komme ich einer Bereitwilligkeit nahe, all meine Autorität über andere Menschen aufzugeben, denn verglichen mit ihm bin ich nicht würdig. Ich bin nicht würdig.