»Neunhundert Jahre«, sagt er schließlich, und der Schatten eines Lächelns geht über sein Gesicht. »Gut. Gut.« Er klatscht nach einem Diener und läßt mehr Airag bringen. Wir teilen uns in eine weitere Schale. Dann sagt er, er müsse aufbrechen. Es sei Zeit, zum Lager seines Sohnes Tschagatai zu reiten, wo die königliche Familie heute ein Turnier abhalte. Er lädt mich nicht ein, ihn zu begleiten. Er hat kein Interesse an mir, obwohl ich aus dem Reich einer fernen Zeit komme, obwohl ich ihm Kunde vom Ruhm künftiger mongolischer Herrschaft bringe. Ich bin ihm unwichtig. Ich habe ihm alles gesagt, was er wissen will; jetzt bin ich vergessen. Nur das Turnier ist jetzt von Bedeutung. Er verläßt das Zelt, schwingt sich auf sein Pferd und reitet fort, gefolgt von den Kriegern seines Gefolges, und nur der Diener und ich bleiben zurück.
24
Zwei in lange Gewänder gehüllte Kultdiener bringen Roger Buckmaster aus den Tiefen des Zelts der Transtemporalisten in Karakorum. Auch Buckmaster trägt ein Gewand, aber nicht aus dem derben schwarzen Roßhaarstoff der Transtemporalisten. Er steckt in einer Art Kutte mit Kapuze, fein gewebt aus dicker brauner Wolle. Er geht barfuß in offenen Sandalen, und auf seiner Brust baumelt ein Kreuz. Beim Zurückstreifen der Kapuze enthüllt er eine Tonsur. Buckmaster ist eine Art Mönch geworden.
Seine neue asketische Erscheinung ist nicht die einzige Veränderung. Früher war er ein aufbrausender, ungeduldiger Choleriker, in dem ständig eine wütende Energie zu zirkulieren schien, immer auf der Suche nach irgendeinem Ventil. Jetzt ist er von einer unheimlich anmutenden Ruhe und Insichgekehrtheit, wie ein Mann, der sich in eine unerreichbare Einsiedelei inneren Friedens zurückgezogen hat. Er ist blaß, sehr dünn, beinahe durchsichtig. Er bleibt stumm und bewegungslos wartend vor Schadrach stehen.
»Ich hatte nicht erwartet, Sie lebend wiederzusehen«, sagt Schadrach nach einem Augenblick unbehaglichen Schweigens.
»Das Leben birgt viele Überraschungen, Doktor Mordechai.« Buckmasters Stimme scheint sich mit seinem Äußeren verändert zu haben, ist tiefer und hohler geworden, gereinigt von aller Ungeduld und Gereiztheit.
»Ich hatte gedacht, Sie lägen in der Organfarm.«
»Der Herr beschloß, mich zu verschonen«, sagt Buckmaster fromm.
Schadrach findet das frömmelnde Getue schwer erträglich. »Sie meinen, Ihre Freunde haben dafür gesorgt, daß Sie mit heiler Haut davongekommen sind«, erwidert er, aber sofort bedauert er seine Unverblümtheit. Es ist nicht klug, so zu jemandem zu sprechen, dessen Hilfe man braucht.
Aber Buckmaster scheint nicht beleidigt.
»Meine Freunde sind Seine Werkzeuge. Wie wir alle, Doktor Mordechai.«
»Sind Sie die ganze Zeit hier gewesen?«
»Ja. Seit dem Tag nach dem Verhör, dessen Zeuge Sie waren.«
»Und die Miliz hat nicht nach Ihnen gesucht?«
»Ich bin offiziell und aktenkundig tot, Doktor. Nach den amtlichen Unterlagen ist mein Körper zerlegt worden. Kranken Bürgern der Hauptstadt zugute gekommen. Die Miliz sucht nicht nach Toten. Für die Behörden bin ich nichts weiter als ein erledigter Fall. Vergessen. Wenn Sie hingingen und ihnen sagten, ich sei hier am Leben, so würde Ihnen keiner glauben.«
»Und was haben Sie während dieser Zeit getan?« fragt Schadrach.
»Die Transtemporalisten betrachten mich als einen heiligen Mann. Jeden Tag trinke ich aus ihrer Schale. Jeden Tag kehre ich in die Zeit zurück, da unser Herr auf Erden wandelte. Ich habe Seiner Leidensgeschichte viele Male beigewohnt, Doktor. Ich bin unter den Aposteln gewandelt. Ich habe den Saum von Marias Kleid berührt. Ich habe die Wundertaten gesehen: Kanaa, Kapernaum, die Erwekkung des Lazarus. Ich habe den Verrat in Gethsemane gesehen, war Augenzeuge, als der Herr vor Pilatus geführt wurde. Ich habe alles gesehen, Doktor Mordechai, alles, wovon die Heilige Schrift berichtet. Es ist alles wahr. Es ist buchstäblich die Wahrheit. Meine Augen haben es gesehen.«
Das unerwartete Feuer der Überzeugung in Buckmasters Augen, die fromme Begeisterung seiner Stimme machen Schadrach sprachlos. Er kann nicht umhin, zu glauben, daß dieser schäbige kleine Mann mit Jesus, Petrus und Johannes durch Galiläa gewandert ist, daß er die Predigten Johannes des Täufers und die Klagen der Magdalena gehört hat. Illusion, Halluzination, Selbsttäuschung, Schwindeclass="underline" egal. Buckmaster ist verwandelt. Er ist verklärt.
Schadrach fragt ihn mit absichtlicher Direktheit: »Können Sie noch mikroelektronische Geräte bauen?«
Die Irrelevanz der Frage bringt Buckmaster aus dem Gleichgewicht. Er ist versunken in heiligmäßige Betrachtungen, eingehüllt in mystische Entrücktheit und transzendentale Freude, und so kommt es, daß er verblüfft nach Luft schnappt, als hätte er einen Rippenstoß bekommen. Er hüstelt, runzelt die Stirn und sagt verdutzt: »Ich denke, daß ich es könnte. Es ist mir nie in den Sinn gekommen…«
»Ich habe Arbeit für Sie.«
»Machen Sie sich nicht lächerlich, Doktor!«
»Ich meine es ganz ernst. Ich bin zu Ihnen gekommen, weil es Arbeit gibt, die nur Sie richtig und gut machen können. Sie sind der einzige, dem ich sie anvertrauen kann.«
»Die Welt hat mich ausgestoßen, Doktor. Ich habe ihr entsagt. Ich wohne hier. Die Angelegenheiten der Welt sind nicht länger die meinen.«
»Sie waren einmal entrüstet über die Anmaßungen und Ungerechtigkeiten des Vorsitzenden.«
»Ich bin jetzt jenseits von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Doktor Mordechai.«
»Sagen Sie das nicht. Es klingt eindrucksvoll, Buckmaster, aber es ist gefährlicher Unsinn. Die Sünde des Hochmuts, nicht wahr? Sie wurden von Ihren Mitmenschen gerettet. Ihnen verdanken Sie Ihr Leben. Diese Mitmenschen haben viel für Sie riskiert. Sie haben ihnen gegenüber Verpflichtungen.«
»Ich bete täglich für sie.«
»Es gibt etwas Nützlicheres, was Sie tun können.«
»Gebet ist das höchste Gut, das ich kenne«, sagt Buckmaster. »Ich stelle es in jedem Fall über die Mikroelektronik. Ich sehe nicht ein, wie irgendeine Arbeit auf diesem Gebiet meinen Mitmenschen helfen sollte.«
»Die Arbeit, die ich für Sie habe, vermag das.«
»Ich wüßte nicht, wie…«
»Der Vorsitzende muß sich bald einer weiteren Operation unterziehen.«
»Was ist mir der Vorsitzende? Er hat mich vergessen, ich habe ihn vergessen.«
»Einer Operation des Gehirns«, fährt Schadrach fort. »In seinem Schädel sammelt sich Flüssigkeit an. Wenn sie nicht abgeleitet werden kann, wird sie ihn wahrscheinlich töten. Während des chirurgischen Eingriffs werden wir ein Drainagesystem mit einem Ventil installieren, durch welches die Flüssigkeit abgeleitet werden kann. Gleichzeitig wird mir ein weiteres telemetrisches Übertragungsgerät eingepflanzt. Ich möchte, daß Sie es für mich entwickeln, Buckmaster.«
»Wozu soll es dienen?«