Als Schadrach und Nicki zum ersten Mal seit seiner Rückkehr zusammentreffen, sind beide befangen. Er versucht zu lächeln, doch es will ihm nicht gut gelingen, und auch ihre Herzlichkeit wirkt gezwungen.
»Wie geht es dem Vorsitzenden?« fragt sie schließlich.
»Er geht der Genesung entgegen«, sagt Schadrach. »Wie gewöhnlich.«
Sie blickt auf seine verbundene linke Hand. »Und wie sieht es bei dir aus?«
»Es schmerzt noch. Dieses Implantat war größer und komplizierter als die anderen, aber in ein, zwei Tagen werde ich nichts mehr spüren.«
»Ich bin froh, daß alles gutgegangen ist.«
»Ja. Danke.«
Wieder unterziehen sie sich dem Ritual des gezwungenen Lächelns.
»Es ist gut, dich wiederzusehen«, sagt er.
»Ja. Ich freue mich auch.«
Sie schweigen. Aber obwohl die Konversation ins Stocken geraten ist, bevor sie richtig anheben konnte, macht keiner der beiden Anstalten zu gehen. Er ist überrascht, wie wenig ihre Schönheit ihn heute anrührt. Sie ist prachtvoll wie eh und je, aber er empfindet nichts, ausgenommen eine Art von abstrakter Bewunderung, wie man sie für eine Marmorstatue oder einen prächtigen Sonnenuntergang empfinden mag. Er versucht Erinnerungen zu Hilfe zu nehmen. Die Kühle ihrer Haut unter seinen Lippen, die Festigkeit ihrer Brüste in seinen Händen, der Duft ihres elektrisierenden langen Haares. Nichts. Die nächtelangen Gespräche, als sie einander soviel zu erzählen hatten. Nichts. Nichts. So wird Liebe vom Verrat versteinert. Aber sie ist immer noch schön.
»Schadrach…«
Er wartet. Sie sucht nach Worten. Er glaubt zu wissen, was sie sagen wilclass="underline" ihm noch einmal sagen, daß sie es bedaure, daß sie keine andere Wahl gehabt habe, daß sie ihn nur aus dem Bewußtsein der Unausweichlichkeit heraus verraten habe. Es ist ein endloser, peinlicher Augenblick.
Schließlich sagt sie: »Wir kommen mit dem Projekt gut voran.«
»Das habe ich gehört.«
»Ich muß daran weiterarbeiten, weißt du. Es gibt keinen anderen Weg für mich. Aber ich hoffe, daß es nie zur Verwirklichung des Projekts kommen wird; das möchte ich dir begreiflich machen. Ich meine, es ist wertvolle Forschung, ein enormer wissenschaftlicher Durchbruch, aber ich möchte, daß es eine nur wissenschaftliche Leistung bleibt, einfach eine… eine…«
Sie bricht ab.
»Das ist schon gut«, sagt er zu ihr und hört eine seltsame Zärtlichkeit in seiner Stimme anklingen. »Quäl dich deswegen nicht, Nicki. Tu deine Arbeit und tu sie gut. Das ist alles, worüber du dir Gedanken zu machen brauchst. Tu deine Arbeit.« Für die Dauer eines Augenblicks fühlt er einen Funken dessen, was er einst für sie empfand. »Mach dir um meinetwillen keine Sorgen«, sagt er sanft. »Ich werde schon zurechtkommen.«
Am dritten Tag wird der Verband von seiner Hand abgenommen. Nur eine rosige Linie markiert die Stelle, wo das Implantat eingesetzt wurde, eine unauffällige Narbe im Innern der Handfläche. Er bewegt die Hand, krümmt und streckt die Finger — ein leichter Schmerz ist noch spürbar —, vermeidet es jedoch sorgsam, sie zur Faust zu ballen. Der Zeitpunkt zur Erprobung des neuen Geräts ist noch nicht gekommen.
Am Ende der Woche, während die Genesung des Vorsitzenden rasche Fortschritte macht, erlaubt Schadrach sich einen Abend in Karakorum. Er geht allein, an einem milden Sommerabend, der erfüllt ist vom Duft frischer Blüten und dem Geruch bevorstehenden Regens, und bezahlt eine Kabine im Traumtod-Pavillon. Dort legt er den Lendenschurz und die Brustbänder an, nimmt den Talisman von der löwenköpfigen Führerin, betrachtet das Muster der spiraligen Linien und versinkt in der Halluzination. Abermals stirbt er. Er gibt alles auf, Hoffnung und Angst, Ehrgeiz und Zorn, Atem und Leben; er stirbt und wird an einem anderen Ort wiedergeboren, erhebt sich aus seiner hohlen, abgenützten Hülle, blickt auf sie herab, diese lange, braune und leere Gestalt mit den nutzlos hängenden, spinnenartigen Armen und Beinen, und schwebt hinaus in die duftende Leere, wo Raum und Zeit von ihren Verankerungen losgeschnitten sind. Alles ist ihm zugänglich, denn er ist tot. Er betritt eine Stadt voller Ochsenkarren und niedrigen Holzhäusern und labyrinthischen, ungepflasterten Gassen, mit einem Marktplatz pittoresker Armut und mittelalterlichem Schmutz und sieht die vornehmen Herren und Damen in ihren grünen und scharlachroten bestickten Gewändern durch die verkoteten Straßen taumeln, schluchzen und jammern und den Herrgott anrufen, die Hände an den schmerzenden geschwollenen Stellen unter den Armen und an den Leisten. Ja, ja, der Schwarze Tod, und Schadrach geht mit ihnen und sagt, ich bin Schadrach der Heiler, komme aus dem Land der Toten, euch zu retten, und er berührt die entzündeten Anschwellungen und hebt die Sterbenden auf und schickt sie ins Leben zurück, und sie singen Hymnen auf seinen Namen. Und er geht weiter in eine andere Stadt, einen Ort von Bambus und Seide, einen Ort von Gärten, wo Chrysanthemen blühen und verkrümmte Zwergkiefern und Wacholder zwischen sorgsam angeordneten Steinen wachsen, und in der Stille des Tages zerplatzt ein Feuerball am Himmel, eine riesenhafte Pilzwolke brodelt zum Dach des Himmels empor, Häuser stehen urplötzlich in Flammen, Menschen stürzen auf die glühenden Straßen hinaus, kleine, mandeläugige, gelbhäutige Menschen, und Schadrach, der wie ein Turm aus Ebenholz zwischen ihnen steht, sagt ihnen mit sanfter Stimme, sie sollten sich nicht fürchten, es sei nur ein Traum, der sie beunruhige, und man könne Schmerzen und sogar den Tod zurückweisen, und er breitet die Hände aus, besänftigt sie, hält das Feuer von ihnen fern. Die Luft füllt sich mit Asche und Ruß und Bimsstein, und es ist wieder die Nacht des Cotopaxi, der Vulkan grollt und donnert und droht, die Luft wird zu Gift, und der junge schwarze Arzt kniet auf der Straße, atmet in die Münder der Gestürzten, hilft ihnen auf, tröstet sie. Und er zieht weiter. Die heulenden assyrischen Kriegshorden ziehen plündernd und sengend durch die Straßen Jerusalems, metzeln gnadenlos nieder, was ihnen in den Weg kommt, und Schadrach näht geduldig die verstümmelten Körper der Gefallenen zusammen und sagt, steh auf, geh, ich bin der Heiler. Das Mammut flieht mit den Herden der wilden Rentiere, als das Gletschereis unter der plötzlich brennendheißen Sonne dahinschmilzt, und die Bewohner der Höhlen werden dünn und schwächlich, und Schadrach lehrt sie Gräser und Samen zu essen, die Beeren der neu gewachsenen Dickichte, er zeigt ihnen, wie man die gewandten und schnellen Fische fängt, und sie verehren ihn und malen sein Ebenbild auf die Wände der heiligen Höhle. Er nimmt Jesus vom Kreuz, als die römischen Soldaten zur Taverne gehen, legt sich den schlaffen Körper über die Schulter und eilt in eine dunkle Hütte, wo er das Blut von den zerfetzten Händen und Füßen wischt, Salben und Tinkturen aufträgt, ein belebendes Gebräu aus Krautern und Säften mischt und es Ihm zu trinken gibt und sagt, geh, lebe, predige. Er fischt die Bruchstücke des Osiris aus dem Nil, fügt sie zusammen, haucht dem Götterbild Leben ein und ruft Isis herbei. Hier ist Osiris, sagt er, ich, Schadrach, gebe ihn dir zurück. Seltsame Wolkenbrüche verfärben den Himmel grün, und der Viruskrieg bricht über die Städte der Menschheit herein, und die Fäulnis dringt in die Körper, und als die Leute ächzen und fallen, richtet Schadrach sie auf und sagt, fürchtet nichts, der Tod ist nur ein Übergang. Leben erwartet euch. Und aus dem Himmel blickt das lächelnde Gesicht des Vorsitzenden. Schadrach treibt durch die Jahrhunderte, freizügig in Raum und Zeit, und allmählich wird ihm bewußt, daß er nicht länger allein ist, daß eine Frau neben ihm ist, die ihn am Ärmel zupft und versucht, ihm etwas zu sagen. Er beachtet sie nicht. Er hört himmlische Chöre seinen Namen singen: Schadrach! Schadrach!
Er erwacht. Er setzt sich auf.
Er ballt wie im Krampf die Fäuste und hält sie so, fest geschlossen.
Aus Ulan Bator, vierhundert Kilometer im Osten, kommt der lautlose Schrei der Sensoren, die den anschwellenden Schmerz im Kopf des alten Mannes melden.