Es geht auf Mitternacht. Die Sperre läßt Schadrach durch, und er begibt sich sofort zum Schlafzimmer des Vorsitzenden, aber dieser ist nicht da. Schadrach runzelt die Stirn. Der alte Mann ist seit mehreren Tagen soweit wiederhergestellt, daß er das Bett verlassen kann, aber es ist komisch, daß er zu so später Stunde umherwandern sollte. Schadrach findet einen Diener, der ihm verrät, daß der Vorsitzende den Abend in seinem persönlichen Arbeitszimmer verbracht habe und wahrscheinlich noch jetzt dort sei, wenn er nicht schlafe.
Also weiter. Durch das leere Speisezimmer in die Diele, und von dort in sein eigenes Arbeitszimmer, wo er ein wenig verweilt, um sich zu sammeln, umgeben von seinen vertrauten und geliebten Besitztümern, den Sphygnomanometern und Skalpellen, seinen Schröpfköpfen und Trepaniersägen. Hier ist die authentische Bauchschlagader des Vorsitzenden, verwahrt in Spiritus. Sicherlich ein Schatz der medizinischen Geschichte. Und hier, die neueste Erwerbung seines Privatmuseums: eine Strähne des dicken, fettigen und noch immer von schwarzen Fäden durchzogenen Haars, ein Ausstellungsstück, das vielleicht besser in ein Museum der Zauberkunst und des Wodu-Kults paßt als in ein solches der Medizin, aber dennoch angemessen ist, weil es im Zuge der Vorbereitungen für einen neurochirurgischen Eingriff entfernt wurde, dem der berühmte Patient sich im neunzigsten (oder fünfundachtzigsten oder fünfundneunzigsten) Jahr seines Lebens unterzog. Aber weiter. Sekunden später präsentiert er sich den Überwachungsanlagen in der gesicherten Tür zum privaten Arbeitszimmer seines Schutzbefohlenen und bittet um Einlaß.
Die Tür rollt zurück.
Das private Arbeitszimmer des Vorsitzenden liegt abseits und ist gegen alle äußeren Störungsquellen abgeschirmt. Es hat eine niedrige, nachträglich eingezogene Balkendecke, und eine Stehlampe verbreitet gedämpftes Licht. Das Mobiliar ist alt und kostbar, reich verziert mit chinesischem Schnitzwerk, und zu den feinen chinesischen Seidenteppichen gesellen sich orientalische Wandbehänge aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert. Der alte Mann liegt auf einem Diwan an der linken Wand. Sein rasierter Schädel ist schon wieder mit dünnen Stoppeln bedeckt. Der Mann ist wirklich nicht umzubringen. Aber er sieht verstört aus.
»Doktor«, sagt er mit seiner krächzenden Altmännerstimme. »Ich wußte, daß Sie kommen würden. Sie spürten es, nicht wahr? Vor ungefähr eineinhalb Stunden. Ich dachte, mein Schädel werde zerspringen.«
»Ich spürte es, ja.«
»Sie sagten, Sie würden mir ein Ventil einbauen. Um die Flüssigkeit abzuleiten, sagten Sie.«
»Das ist auch geschehen.«
»Funktioniert das Ding nicht richtig?«
»Es funktioniert ausgezeichnet«, antwortet Schadrach mit sanfter Stimme und undurchdringlicher Miene.
Der alte Mann blickt unzufrieden und verwirrt zu ihm auf.
»Was verursachte mir dann vor einer Weile so schlimme Kopfschmerzen?«
»Dies«, sagt Schadrach. Er lächelt, streckt die linke Hand aus und ballt sie zur Faust.
Eine Weile geschieht nichts. Dann weiten sich die Augen des alten Mannes vor Schreck und Bestürzung. Er ächzt und hebt die Hände an die Schläfen. Er beißt sich auf die Lippe, neigt den kahlen Kopf und murmelt gequälte, gutturale Flüche. Die eingepflanzten Signalgeber verraten Schadrach einiges über die starken Reaktionen in seinem Gegenüber: Pulsschlag und Atmung steigen besorgniserregend, der Blutdruck sinkt, der Druck im Innern des Schädels hat stark zugenommen. Der alte Mann krümmt sich und stöhnt. Schadrach öffnet die Finger. Allmählich weicht der Schmerz, der angespannte krampfhaft zusammengezogene Körper streckt sich, und Schadrach empfängt keine Schocksymptome mehr.
Dschingis Khan II. Mao blickt auf. Lang starrt er Schadrach ins Gesicht.
»Was haben Sie mir angetan?« fragt er mit heiser flüsternder Stimme.
»Wir installierten ein Ventil in Ihrem Hirnstamm, um die gefährlichen Ansammlungen cerebrospinaler Flüssigkeit abzuleiten. Ich sollte Ihnen jedoch nicht verheimlichen, daß die Arbeitsweise des Ventils umkehrbar ist. Auf ein telemetrisch gegebenes Signal hin kann es Flüssigkeit in die Ventrikel pumpen, statt sie aus ihnen abzuleiten. Ich steuere die Arbeitsweise des Ventils mittels eines piezoelektrischen Kristalls, das hier in meine Handfläche eingepflanzt ist. Ein Druck, und das Ventil schließt sich. Ein stärkerer Druck, und es öffnet sich in der Gegenrichtung und pumpt Flüssigkeit in die Ve ntrikel zurück. Ich kann Ihre Lebensprozesse unterbrechen. Ich kann Ihnen innerhalb von Sekunden Schmerzen von der Art verursachen, die Sie eben kennen gelernt haben. Auf dieselbe Weise könnte ich in kurzer Zeit Ihren Tod herbeiführen.«
Der alte Mann hat sich schon gefaßt. Sein Gesichtsausdruck ist völlig undurchdringlich. Schweigend überdenkt er Schadrachs Erklärung.
Nach einer langen Pause räuspert er sich und sagt: »Warum haben Sie mir das angetan, Mordechai?«
»Um mich zu schützen, Herr.«
Der andere zeigt die Andeutung eines kalten Lächelns. »Sie dachten, ich würde Ihren Körper für das Projekt Avatara verwenden?«
»Ich war dessen sicher.«
»Falsch. Es wäre nie dazu gekommen. Sie sind mir zu wichtig, so wie Sie sind, Doktor.«
Schadrach verneigt sich. »Ich danke Ihnen, das ist gut zu hören.«
»Sie denken, ich lüge. Aber ich sage Ihnen, daß wir das Projekt Avatara niemals mit Ihnen als dem Spender verwirklicht haben würden. Mißverstehen Sie mich nicht, Mordechai. Ich versuche nicht, Sie um etwas zu bitten. Ich sage Ihnen einfach, wie die Dinge wirklich stehen.«
»Ich verstehe, ja. Aber ich weiß, was Sie über die Entbehrlichkeit des einzelnen gesagt und geschrieben haben. Ich fürchtete, daß man im Begriff war, mich entbehrlich zu machen. Darum habe ich mich unentbehrlich gemacht.«
»Würden Sie mich töten?« fragt der alte Mann.
»Wenn ich spürte, daß mein Leben in Gefahr ist, ja.«
»Was würde Hippokrates dazu sagen?«
»Auch Ärzte haben das Recht zur Selbstverteidigung, Herr.«
Der alte Mann lächelt. Er scheint Spaß an diesem Gespräch zu finden. Sein lederiges Gesicht zeigt keine Spur von Zorn oder Enttäuschung. »Angenommen«, sagt er in dem nachdenklichen Ton eines Mannes, der eine nur spekulative Hypothese zur Sprache bringt, »angenommen, ich ließe Sie von Sicherheitsbeamten unerwartet überwältigen, bewegungsunfähig machen, ehe Sie die Hand zur Faust ballen können, und zu Tode bringen?«
Schadrach schüttelt den Kopf. »Das Gerät in meiner Hand ist an die elektrische Ausgangsspannung meines Gehirns gebunden. Wenn ich sterbe, wenn mein Bewußtsein in irgendeiner Weise künstlich gelöscht oder verändert wird, wenn es zu einer nennenswerten Unterbrechung meiner Gehirnwellen kommt, dann beginnt das Ventil automatisch cerebrospinale Flüssigkeit in Ihre Ventrikel zu pumpen. Der Augenblick meines Todes ist demnach das automatische Vorspiel zu Ihrem eigenen. Unsere Geschicke sind miteinander verknüpft. Schützen Sie mein Leben in Ihrem eigenen Interesse.«
»Und wenn ich das Ventil aus meinem Kopf entfernen und durch eins ersetzen lasse, das nicht ganz so… ah… vielseitig ist?«
Schadrach schüttelt den Kopf. »Sie könnten sich keinem chirurgischen Eingriff unterziehen, ohne daß mein Signalsystem mich davon unterrichten würde. Natürlich wurde ich sofort Abwehrmaßnahmen ergreifen. Nein. Wir sind eine Einheit in zwei Körpern geworden, und dabei wird es bleiben.«
»Sehr schlau. Wer hat dieses mechanische Wunderding für Sie gebaut?«
»Buckmaster.«
»Buckmaster? Aber der ist seit Mai tot. Damals konnten Sie nicht gewußt haben…«
»Buckmaster ist noch am Leben, Herr«, sagt Schadrach leise.
Der Vorsitzende denkt darüber nach. Er wird sehr nachdenklich. Lange verharrt er in Stillschweigen.
»Noch am Leben. Seltsam.«
»Ja.«
»Ich verstehe das nicht.«